25. Für die Vernunft und gegen den Wahnsinn

2.9K 411 47
                                    

[F.]

Es ist der dritte Tag, seitdem Marie mir einen Herzschlag gestohlen hat und jetzt im Wald hinter ihrem Haus begraben liegt.

Ich stehe im Einkaufszentrum auf dem abartig neuen dunkelgrauen Teppichboden der abartig neuen Buchhandlung, die so bestimmt noch in dreißig anderen Städten im Land steht, und schaue mir Reiseratgeber an.

Spanien, Schweden, Dänemark, Holland, die Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko.

Wenn ich abhauen würde, wohin würde ich gehen?

Ich presse die Lippen aufeinander und sehe mich ratlos um.

Wie aus dem Nichts taucht sie in meinem Blickfeld auf, steht in der kleinen Nische bei den Sachbüchern und schaut sich irgendwas über Mutterschaft an. Ganz konzentriert, so, dass sie nicht mal die Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben, aus ihrem Gesicht streicht. Charlotte ist so verdammt schön.

Sie trägt ihr seriös wirkendes Büro-Outfit, exakt dasselbe, dass ich ihr irgendwann letztens noch im Bürgerbüro ausgezogen habe.

Soll ich hingehen? Soll ich nicht hingehen? Noch hat sie mich nicht bemerkt oder sich anmerken lassen, dass sie mich bemerkt hat, andererseits haben wir auch nicht mehr miteinander gesprochen, seitdem ich mir ihr Auto geliehen habe.

Sie ist so vertieft in das Buch. Unwillkürlich muss ich lächeln, weil sie so aussieht, wie sie schon immer aussah. So klug und unnahbar, wie etwas, was man aus der Ferne beobachtet, weil man es verschreckt, wenn man nur einen falschen Schritt macht.

Ach Scheiße, Lotte, wieso können wir uns nicht mehr kennenlernen?

Leise mache ich einen Schritt nach dem anderen, stelle mich hinter sie und kann sehen, wie sich kurz ihr ganzer Körper anspannt.

„Suchst du ein bestimmtes Buch?", flüstere ich.

Sie schmunzelt. „Eigentlich hätte ich gerne eine ganz leichte Liebesgeschichte", erzählt sie, stellt ihr aktuelles Buch zurück ins Regal und sucht ein anderes heraus. Kindererziehung, in einem liebevollen rosafarbenen Einband.

„Die stehen aber in einer anderen Abteilung", antworte ich.

„Stimmt. Aber ist es denn so verwerflich, in der Realität danach zu suchen anstatt in der Fiktion?"

Sie riecht so gut. „Es ist schwieriger", meine ich nur. Charlotte stellt das Buch in ihrer Hand weg und dreht sich zu mir um. Da sind sie wieder, ihre verdammt nordseeblauen Augen, und ich ertrinke wieder in ihnen.

„Was möchtest du?", flüstert sie, schaut zu mir auf.

Dich beschützen. Das ist alles, was ich immer wollte.

„Ein Buch kaufen, aber diese Buchhandlung ist echt scheiße", antworte ich leise.

Sie lächelt, obwohl das nicht die Antwort auf ihre Frage ist. „Ich hab mir immer vorgestellt, dass du die Buchhandlung in der Innenstadt kaufen würdest, und wenn ich irgendwann aus Heidelberg zurückkäme, dann würdest du da stehen und ..." Verlegen verliert sie den Blick in meine Augen. „Und alles wäre plötzlich so klar und einfach."

Sie hält inne. „Ich weiß, dass das dämlich ist. Es ist selbstzerstörerisch, dir, ausgerechnet dir, meine Liebe zu geben, weil du sie nie nehmen wirst, und trotzdem hast du sie. Alles von ihr, was ich geben kann. Es ist so unvernünftig, dass ich nicht aufhören kann, an dich zu denken, weil du nicht an mich denkst. Ich mag das nicht, dass du einfach vor mir stehst und mein Herz aufhört zu schlagen, weil ich so verdammt nervös bin. Ich will nicht verliebt in dich sein, weil du mich nur kaputt machst und es tut mir leid, dass ich meinte, dass wir Freunde sein könnten. Ich dachte, dass wir das könnten, aber eigentlich hält es mich nur bei dir, weil ich nicht bereit war, dich zu verlieren."

Es verschlägt mir die Sprache. In meinem Kopf sind nur wahllose Wörter, die ich nicht zu Sätzen formen kann.

Charlotte, bitte geh nicht oder geh? Es geht mir nicht gut, wenn du gehst und es geht dir nicht gut, wenn du bleibst.

„Ich muss jetzt los. Bin mit Ansgar zum Mittagessen verabredet", flüstert sie.

Du musst gehen. Geh zu deinem Mann, gründet eine nette Familie, lebt in eurem hübschen Haus im Neubaugebiet, holt euch einen Hund aus dem Tierheim, pflanzt Lavendel in eurem Garten und stellt euer Auto nachts nicht an den Straßenrand, weil es sonst von Jugendlichen angezündet wird.

Schließ den Kreis, Charlotte. Schließ ihn, anstatt ihn an meiner Seite aufzubrechen.

Dann sitze doch am Sonntag mit deinem Kaffee voller Milch an deinem Frühstückstisch mit deinem perfekten Ehemann, deinem perfekten gelogenen Lächeln und deinen süßen Kindern. Schau dir die Prospekte an, am Montag gibt's wieder Couchtische rabattiert – du brauchst doch bestimmt einen neuen.

Du willst noch Fleisch kaufen, weil die Schwiegereltern zum Essen vorbeikommen. Du willst was Großartiges kochen und willst so sehr, dass alles perfekt ist. Spürst du den Druck?

Spürst du den Druck, den du in deinem perfekten Leben haben wirst?

Komm mit mir.

Kämpf gegen den Druck.

Ich verspreche dir, dass du ihn nie wieder spüren wirst. Ich halte ihn von dir fern, erlaube dir, alles zu sein, was du willst, und überall zu sein. Tausch Vernunft gegen Wahnsinn und den Wahnsinn gegen die Freiheit.

Du darfst nur nicht gehen. Nicht jetzt, wo du doch so kurz davor bist, zu bleiben.

Ich halte sie fest. „Du willst lieber mit jemandem zusammen sein, den du nicht liebst, als mit jemandem, den du liebst?", frage ich.

Charlotte nickt und entscheidet sich für die Vernunft anstatt für den Wahnsinn, anstatt für die Freiheit. „Es ist besser, geliebt zu werden, als zu lieben, F.."

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now