22. Ich hätte aufpassen sollen

3K 403 61
                                    

[F.]

An der Wand des Hausflurs befindet sich eine alte Lampe, deren gelbes Licht die Spinnenweben beleuchtet, die sich von ihr bis zur Decke spannen. Der Hausflur hat alte blaue Fliesen, die nicht zur braunen Holztreppe passen. Die Treppe knarzt, wenn man sie besoffen hochstolpert oder nüchtern Einkäufe hoch in den zweiten Stock schleppen muss, weil das Haus so alt ist, dass es keinen Aufzug hat.

Langsam, weil jeder Schritt zu schwer ist, gehe ich eine Stufe nach der anderen nach oben. Bis ich vor der Treppe, die zum zweiten Stock führt, stehen bleibe.

Da sitzt Robin.

„Was machst du im Hausflur?", frage ich.

„Ich hab meinen Hausschlüssel verloren und noch kein Handy, um meinen großen Bruder anzurufen."

Ich nicke verständnisvoll.

„Du blutest da", meint Robin und deutet mit Kippe zwischen den Fingern auf den Blutfleck, das kleine eingesaute Loch in meiner Haut und meinem weißen T-Shirt, das Marie mit dem Küchenmesser hinterlassen hat.

Ich seufze. „Weiß ich." Dann setze ich mich neben ihn auf die Stufen, greife nach den Kippen, die er neben sich liegen hat. Das Feuerzeug klickt, die Zigarette ist an und der erste Zug in meiner Lunge.

„Und du stinkst echt scheiße." Robin lehnt sich grinsend zurück und bläst verbrauchten Rauch aus. Ich ignoriere es. In mir fühlt sich alles ganz seltsam an. Es ist, als würde man von einem kraftraubenden Trip wieder runterkommen und dabei ein Stück seiner Seele verloren haben.

Alles fühlt sich so überflüssig an. So unnötig. So leblos.

Marie ist auch leblos. Wegen mir.

Mir ist schwindlig. Mir ist schlecht. Und trotzdem fühle ich nichts, während ich eigentlich alles fühle.

„Robbe, kann ich dich was fragen?", will ich wissen, als meine Kippe schon halb verraucht ist.

„Klar, hau raus."

„Als du den Obdachlosen an der Bushaltestelle im Plattenbau abgestochen hast ..." Ich halte inne. „Was hast du danach gefühlt?"

Robin denkt nach, zieht erneut, atmet ein und aus. Er schließt die Augen, während meine starr geradeaus starren, in der Hoffnung, nicht mehr die tote Marie sehen zu müssen.

Ihre Haare waren von ihrem Blut verklebt, sie roch nach Shampoo. Sie hat sich, wie alle Toten es tun, eingepinkelt, in ihr kleines nettes rosa Sommerkleidchen.

Hätte ihr verdammtes Herz doch einfach weitergeschlagen.

Hätte ich nur nicht das verdammte Haus betreten.

Robin räuspert sich, scheint die passenden Worte gefunden zu haben, während ich schon ganz vergessen habe, dass ich ihn überhaupt gefragt habe.

„Erst fühlst du nichts. Absolut nichts. Es ist, als stände für einen Moment die gesamte Welt still. Die Erde wird einfach taub. Ich glaub, es ist scheißegal, wie viele Pillen du geschluckt hast oder ob du ein Serienkiller bist oder gerade ausversehen wen gekillt hast.

In dieser absolut schweigenden Sekunde gibt es einfach nichts. Da sind wir alle gleich. Da rücken wir von der Normalität ab, von der Menschlichkeit. Da sind wir verrückt.

Es ist dann alles leer. Alles wird grau, wie vor einem Gewitter, wenn der Himmel so richtig beschissen düster ist und du genau weißt, gleich wird es regnen.

Ich glaube, in dieser einen Sekunde wird dir ein Herzschlag gestohlen, dafür, dass du ein Leben gestohlen hast.

Und dann ... Wenn diese absolut taube Sekunde vorbei ist ... Dann fühlst du alles."

Robin setzt sich auf und sieht mich an. „Ich hab im Knast einen Typen kennengelernt, der hat einen Mord ganz kaltblütig geplant. Der hat nach der absoluten Sekunde nichts gefühlt. Gar nichts." Er zieht nochmal an der Zigarette. „Der war danach einfach so richtig stumpf und wurde nie wieder normal."

Robin presst die Lippen aufeinander, richtet seinen Blick von mir weg und stattdessen geradeaus.

„Vielleicht wäre ich auch so geworden, wenn ich nie zugelassen hätte, es zu verarbeiten." Robin raucht weiter. „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man nur selbst dafür verantwortlich ist. Man kann nur sich selbst vergeben, weil das Opfer es nie können wird."

„Es tut mir leid", flüstere ich, meine Stimme wird brüchig.

Robin schüttelt den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld, dass ich den Mann erstochen habe."

„Das meine ich nicht." Ich schlucke schwer, sehe immer noch, wie Marie am Fuß der Treppe liegt und mir der Fetzen ihrer Bluse aus der Hand fällt. „Ich hab heute was ganz Schlimmes getan", flüstere ich, während die Sicht verschwimmt. Die Verzweiflung bricht über meinem Kopf zusammen, überflutet mich und drückt mich an den Boden, damit ich liegenbleibe und ertrinke.

„Ich weiß", versichert mir mein kleiner Bruder, der plötzlich viel älter und erwachsener ist als damals, als wir uns im Wattenmeer mit Matsch beschmissen haben. „Willst du es mir erzählen?"

„Ich will dich nicht mit reinziehen."

Robin ist nicht dumm, kann eins und eins zusammenzählen. Wäre ich nicht gewesen, wäre mein Schuhkarton voller LSD nicht gewesen, dann wäre aus Robin vielleicht was Richtiges geworden.

Robin hätte es aus der ganzen Scheiße schaffen können, wenn ich mehr auf ihn aufgepasst hätte.

Aus allen hätte was werden können, wenn ich mehr aufgepasst hätte.

Ich hätte auf Charlotte besser aufpassen sollen.

Ich hätte auf meine Mutter besser aufpassen sollen.

Ich hätte auf M. besser aufpassen sollen.

Ich hätte auf Marie besser aufpassen sollen.

Ich hätte auf Ronja besser aufpassen sollen.

Ich hätte verdammt nochmal auf jeden besser aufpassen sollen.

„Es fühlt sich an, als müsste ich jeden Augenblick kotzen", sage ich. Robin seufzt, richtet sich auf und reicht mir seine Hand zum Hochziehen.

Ich nehme sie, lasse mir aufhelfen.

„Jetzt geh verdammt nochmal duschen – du stinkst abartig." Mein Bruder grinst, als wäre das alles gar nicht passiert.

Es wird Zeit, dass ich anfange, auf alle besser aufzupassen.

Der Club der WichserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt