17. Alles ist witzig

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[J.]

Es ist eine Woche später.

Wir sind draußen, F. tritt den Schnee unter seinen Füßen platt und M. dreht konzentriert auf der Bank hinter der Sporthalle, die streng genommen nicht mehr zum Schulgelände gehört.

O. hat eine dunkelblaue Daunenjacke an, für die wahrscheinlich ausschließlich Küken gestorben sind, F. die zerfetzte Jeansjacke, die ihn unmöglich warm halten kann, M. seinen olivfarbenen Parker und ich eine etwas längere schwarze Jacke, wie sie die Anzugträger in Filmen tragen.

„Sie war in Englisch nicht da", erzähle ich.

Wir haben nicht drüber gesprochen und eigentlich stumm vereinbart, dass wir das auch nie tun werden.

Aber es bringt mich um, zu schweigen.

Vielleicht fühlt sich keiner von den anderen schlecht.

Vielleicht kann F. es betäuben.

Vielleicht kann M. es nicht an sich heranlassen.

Vielleicht kann O. es totschweigen.

Ich kann es nicht.

Mich frisst es auf.

Wenn ich schlafen will, höre ich ihr Wimmern.

Wir hätten das nie tun dürfen.

„Sie war in keinem Fach da", meint F. nun und schaut vom Boden zu mir.

„Vielleicht sollte einer von uns mit ihr reden, um sicherzugehen, dass sie nicht zur Polizei geht", schlage ich vor und versuche, seinem harten Blick standzuhalten.

Jetzt gerade ist der nur Fassade.

„Wenn sie es jetzt nicht gemacht hat, dann wird es wohl kaum noch passieren. Ich glaube, wenn wir ihr mit der Idee kommen, dass sie uns anzeigen könnte, dann macht die das eher als von sich aus", wirft M. ein, der das Blättchen gerade zusammenklebt und dann entspannt den Joint anzündet.

O. schmunzelt. „Machen wir das eigentlich nochmal?", fragt er dann sorglos.

F. runzelt die Stirn. „Nochmal?", wiederholt er fragend. Dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er setzt sich auf die Rückenlehne der Bank, lässt sich den Joint von M. reichen. „Fandest du es geil, oder was?"

Ich schaue zu O. Er zuckt mit den Schultern, sein Gesicht errötet etwas.

„Ohne euch wär es natürlich geiler gewesen", meint er dann trocken.
Ein paar Sekunden lang schaut F. ihn schweigend an, während sich in mir alles verzieht. Ich mag es nicht, dass es für alle ein Witz ist.

Es ist nicht witzig.

Wir haben Ronja gebrochen.

Auf ewig gezeichnet.

In mir dreht sich alles.

„Also ich bleib lieber bei richtigem Sex", kommentiert M., nimmt F. wieder den Joint weg und steht auf. F. lacht, schlagartig hat sich seine Mimik wieder verändert.

Schlagartig ist alles plötzlich ganz witzig.

Dabei hat O. gerade gesagt, dass er es geil fand, Ronja zu vergewaltigen.

Er war davor Jungfrau. Das weiß ich.

Wir anderen nicht.

Er schon.

Sein erstes Mal war mit der betrunkenen, willenlosen und doch anwesenden Ronja.

In mir dreht sich immer noch alles.

„Aber nur mit Elena, die deine drei Sekunden Leistung mitmacht", höre ich F. M. aufziehen.

„Immerhin hab ich eine Freundin – da fällt mir ein; wie läufts eigentlich mit Emma? Hast du J. schon gefragt, ob du die haben darfst?" M. grinst.

Es klingt alles so weit entfernt.

„J.?"

Wie können sie nur lächeln?

Wir haben Ronja gebrochen.

M. hat wieder den Joint, zieht, stößt verbrauchten Rauch in die eisige Kälte und reicht ihn dann an O. weiter. Der nimmt dankend an, zieht auch, reicht ihn dann mir.

Vielleicht kann ich es auch betäuben.

Ich ziehe, spüre den brennenden, bitteren Rauch in meine Lunge hinabsteigen.

Rein in den Schacht, schütte ihn zu. Töte Ronjas Wimmern. Wenn auch nur für eine Sekunde.

Töte ihn!

Ich atme aus.

Töte ihn!

Ich gebe den letzten Zug an F. weiter.

O. schaut auf die Uhr. „Wir müssen. Sind schon fünf Minuten zu spät für Deutsch."

M. rollt mit den Augen. „Müssen wir da hin? Können wir nicht ..." Er bricht den Satz ab, greift nach dem pulvrigen weißen Schnee und formt in einem Handgriff einen groben Schneeball. Dann schleudert er ihn auf O.. Er landet mitten in dessen Gesicht.

„Du bist so ein Spast", meint O. genervt, wirft einen Schneeball zurück. Er verfehlt M. und trifft F., der direkt links daneben steht.

Unweigerlich muss ich lachen, weil ihm vor Schock der Joint in den Schnee gefallen ist.

„Fick dich, J.", grinst er trotzdem und ehe mich versehe, reibt er mir Schnee ins Gesicht.

Die darauffolgende Schneeballschlacht kostet uns nochmal mehre Minuten Unterricht.

Schließlich platzen wir mit reiflicher Verspätung von zweiundzwanzig Minuten in den Deutschunterricht.

„Zu spät", kommentiert der Lehrer gereizt, aber das ist es gar nicht, was so seltsam ist.

Alle sind still, fast schon verstört.

Katharina, die in der ersten Reihe neben Ronjas leerem Stuhl sitzt, weint.
Charlotte schaut F. fast hilfesuchend an, während Elena in der letzten Reihe ihrem Freund einen strafenden Blick zuwirft.

Moritz und Oliver wirken bedrückt.

Alle wirken bedrückt.

Trauernd.

„Da ihr vier eine Extra-Einladung braucht, werde ich euch jetzt das sagen müssen, was die Oberstufenleitung bereits erklärt hat." Er macht eine kurze Pause.

Jetzt sagt er bestimmt, dass die Abiprüfungen früher sind als im März.

„Ronja Wesber hat letzte Nacht Suizid begangen." Dann sagt er etwas, irgendetwas.

Ich weiß nicht, was.

Ich weiß nur, dass Ronja tot ist.

Ronja ist tot.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now