15. Chaos und Ordnung

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[F.]

Charlotte rückt Bücher zurecht, während ich mich gegen den Verkaufstresen lehne.

Es ist wieder Mittwoch, ich bin wieder bei ihr in der Buchhandlung, Ronja ist seit drei Tagen krank.

„Ich hasse diese Menschen, die das Buch verkehrt herum zurück ins Regal stellen. Das zerstört die Symmetrie", höre ich Charlotte genervt stöhnen.

Sie ordnet das vermeintliche Chaos der Buchhandlung, während ich an meinem ersticke.

Ronja ist seit drei Tagen krank.

Ronja weint bestimmt, leise, eingesperrt in ihrem Zimmer. Sie wimmert bestimmt, so wie Charlotte, nachdem ihre Mutter sie geschlagen hat.

Chaos ist die Abwesenheit von Ordnung, Chaos ist Wahnsinn, Chaos ist nicht rational. Chaos versteht man nicht und Chaos spürt man nicht – Chaos findet im Kopf statt, wenn sich zehn Gedanken gleichzeitig festbeißen, sich wie Zecken aneinander krallen und einem das Blut aussaugen.

Alles greift nach mir, zieht mich in das schwarze Nichts, das sich anfühlt wie ein Strudel, der einen so lange unter Wasser drückt, bis man ertrinkt, willenlos zum Boden sinkt.

Und Ronja ist seit drei Tagen krank. Sie muss Schmerzen haben, Schmerzen, die wir ihr zugefügt haben.

Ganz bewusst, ganz bei Sinnen und gleichzeitig versunken in Sinnlosigkeit.

Ronja war die Suche nach Verstand in all dem Wahn.

Ronja zu ficken hatte etwas Kaltes, Unangenehmes. Da war ihr Weinen in meinem Ohr, der Blutfleck auf der Matratze im Schlafzimmer von O.s Eltern.

Es war ein Krampf, löste keinen Druck, sondern feuerte ihn nur an.

Es fühlte sich so unbehaglich an, dass ich nicht kommen konnte, das ganze nach nur einer Minute abbrach und das Zimmer schweigend verließ.

Ronja daließ, für den Nächsten bereit.

Ich habe Ronja nicht beschützt, weder vor mir noch vor sonst wem.

Ich habe Ronja vergewaltigt, aus einer Laune heraus.

Einfach so.

Um zu wissen wie es ist, und um den verdammten Druck zu lösen, der sich so nur fester gebissen hat.

„F.?" Charlotte sieht mich stirnrunzelnd an, während sich auf ihrem Arm Bücher türmen. „Hilfst du mir mal?"

Ich nicke nur, stoße mich vom Tresen ab und nehme die obersten Bücher vom Stapel. „Wieso nimmst du auch so viele?"

„Damit du aufhörst, Löcher in die Luft zu starren und mir hilfst", erklärt sie und lächelt.

Ich rolle mit den Augen, stelle die Bücher vor der Kasse ab und beobachte Charlotte dabei, wie sie es mir gleichtut.

„Kann ich dich mal was fragen?", fange ich einen Satz an, bei dem ich nicht weiß, wo er hinführen soll.

„Klar, was denn?"

„Würdest du abhauen?", kommt der Gedanke heraus, der bei allem Chaos immer beständig bleibt. Abhauen, fliehen vor allem. Raus aus dem Plattenbau, raus aus der Stadt, raus aus der Realität und hinein in eine Traumwelt, die so nicht existiert. Weder hier noch irgendwo sonst.

Eine Traumwelt, die sich in kleine Wölkchen hüllt, ein Wolkenschloss aus verbrauchtem Rauch. Das Wolkenhaus, das sich aus Schwaden formt, die sich an der Zimmerdecke bilden.

„Wohin?" Aus der Realität, aus dem Druck, aus der Angst, dem Hass, der Furcht – ganz weit weg, Charlotte. Nur du und nur ich, weit weg vom Abgrund und den Dingen, die wir tun, die uns angetan werden.

„Eben weg", meine ich und schaue sie an. Sie überlegt, ihre nordseeblauen Augen suchen die kleine Insel in den weißen Rauchschwaden, die uns retten soll.

„Ich weiß nicht. Flüchte ich allein?" Sie wendet den Blick ab und tut so, als würde sie sich auf den Bücherstapel und irgendwelche ausgedruckten Tabellen vor sich konzentrieren, obwohl sie eigentlich nur hören will, dass ich mit ihr flüchten würde, weil es so romantisch klingt.

„Keine Ahnung", gestehe ich.

Kurz flackert etwas wie Enttäuschung in ihrem Gesicht auf, dann verschwindet es wieder eilig unter einem kleinen Lächeln. „Ich glaube nicht, dass Flucht die Lösung ist. Weißt du, momentan ist alles irgendwie wieder etwas besser. Meine Mutter hat diese Woche aufgehört, zu trinken – diesmal wirklich." So wie die letzten fünf Male. „Und Moritz aus dem Englisch-LK hat mich gebeten, ihm Nachhilfe zu geben." Weil er dich ficken will.

Ich denke nicht nach, spreche einfach. „Ja, klingt alles richtig bleibenswert." Es klingt zu sarkastisch.

Charlotte seufzt. „Muss das sein?"

„Was?"

„Dass du alles, worüber ich mich freue, mit einem Satz einfach runterziehst, als wäre es nichtig, nur weil du es nicht verstehst." Sie sagt es sachlich, aber es wirkt wie eine Provokation.

„Vielleicht weil ich es wirklich nichtig finde?"

Das hat ihr weh getan. Das sieht man ihren nordseeblauen Augen an. Das muss gestochen haben im Herzen, warum auch immer.

„Na dann", bringt Charlotte schwach heraus und widmet sich wieder der Tabelle und den Büchern. Wir schweigen, anders als sonst – nicht gemeinschaftlich, sondern jeder für sich.

„Ich muss jetzt los", sage ich irgendwann und sie tut, als interessiere es sie nicht, weil sie sauer ist, dass ich mich nicht für sie freue, weil ich ihre kleine Blase aus Hoffnung platzen sehe und sie nicht.

„Okay", meint Charlotte nur, sieht mich nicht einmal an.

„Wir sehen uns ja in der Schule und ..." Ich halte inne, warte darauf, dass sie den Blick hebt und mir in die Augen sieht.

„Ja?" Lotte sieht mich fordernd an.

„Klingel, wenn was ist", sage ich zärtlich, versöhnlich, und das Gefühl, die Hoffnung, dass ich empfinden könnte was sie empfindet, kehrt einfach so wieder zurück.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now