7. Rangordnung

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[J.]

Freitag. Siebte Stunde. Freistunde.

Wir sitzen allein in der Bücherei der Schule, die eine der Schulsekretärinnen extra für uns aufgeschlossen hat. Es ist ein ehemaliges Klassenzimmer mit Ikea-Regalen, runden Tischen und einer alten Couch, auf die sich niemand nach der fünften Klasse mehr setzt, weil einem dann bewusst ist, dass die ganzen roten kleine Stiche auf dem Arm von der dort lebenden Milben-Kolonie kommen.

M., O. und ich warten.

M. wippt mit dem Bein auf und ab, als hätte er eine Aufmerksamkeitsstörung. Es gibt jedes Mal ein kleines dumpfes Geräusch, wenn seine Schuhsohle auf dem Boden aufkommt. Ansonsten ist es still. Wir haben uns hingesetzt, jeder hat seinen Collegeblock aus dem Rucksack geholt und ich habe vorgeschlagen, dass wir ja einzeln Notizen aufschreiben könnten, die wir später zusammenführen, während wir auf F. warten.

F. kommt vierzehn Minuten zu spät, mit halb geschlossenen Augen und dem schon bekannten Geruch von Gras, der an ihm haftet.

„Du bist zu spät", meint M. genervt.

„Oder ihr seid einfach nur zu früh", antwortet F. dreist und lässt sich neben mich auf den letzten freien Stuhl am Tisch fallen.

M. antwortet nicht und es entsteht wieder ein unangenehmes Schweigen, weil hier niemand mit dem anderen sein möchte.

„Also laut dem Arbeitsblatt sollten wir einen Adressaten auswählen", sage ich, ohne den Blick von besagtem Arbeitsblatt abzuwenden.

F. seufzt. „Jetzt mal ernsthaft; wen interessiert diese Rede? Der wird das doch nicht mal benoten."

„Was laberst du? Natürlich wird der das benoten", meint M. sofort vorwurfsvoll.

„Alter, wovor hast du überhaupt Schiss? Du schaffst dein Abi doch eh nicht", erklärt F. so beiläufig, als würde es jeder wissen, als wäre es selbstverständlich.

Es ist nicht selbstverständlich. „Leute, entspannt euch. Wir machen das fertig und dann kann jeder ...", will ich schlichten, aber ich werde von M. unterbrochen.

„Und du schon? Ich mein; musst du nicht irgendwie noch Sozialstunden abarbeiten oder in den Entzug?", fragt er an F. gewandt.

Das war letztes Jahr, will ich sagen, aber halte die Klappe. Letztes Jahr, da hat F. Sozialstunden leisten müssen, weil die Polizei ihn erwischt hat. Es war nichts Besonderes – Drogen und Dealer gab und gibt es schließlich überall.

„Scheiße, M., kannst du nicht einfach zurück in dein Fußball-Camp und dem Trainer den Schwanz lutschen?", kontert F.

M. lacht verächtlich.

„Okay, das reicht jetzt", starte ich einen neuen Versuch der Schlichtung, werde aber ignoriert.

„Klar, fahr aber davor bei deiner Mutter vorbei und fick sie richtig wund. Was denkst du kostet der Spaß? Für einen Zwanziger macht sie es bestimmt."

„M., können wir bitte ...", will ich wieder auf das Arbeitsblatt zurückkommen, aber F. steht von seinem Stuhl auf.

„Du hältst dich ja für ganz hart." Er grinst überheblich. „Weißt du, M. – das Ding ist; dahinter ist nichts. Du lebst in so einer beschissenen kleinen Blase, in der alles perfekt ist. Du kennst die Realität gar nicht, und die traurige Wahrheit ist; du wirst sie auch nie kennenlernen, weil du dein Leben lang in dieser kleinen rosa Blubberblase bleibst, in der nur du existierst."

M. steht auch auf. „Danke. Danke für diesen weisen Hinweis, F. Ich kann nichts dafür, dass mein Leben besser ist als deins, und es ist auch nicht meine Schuld, dass du arm bist und im Plattenbau lebst, aber du hast keine Ahnung von mir."

Mein Blick geht zu O., der aufmerksam jede Körperbewegung der beiden beobachtet.

„Alter, M.. Kannst du nicht einfach deine Fresse halten? Niemand will deine traurige Geschichte hören."

„Was willst du machen? Mir eine reinhauen?", provoziert M. weiter.

„Spricht doch nichts gegen, oder?"

„Dann mach doch." M.s Mundwinkel ziehen sich angriffslustig nach oben.

F. lacht verächtlich und dann, ganz plötzlich, verändert sich seine Mimik, er ballt seine rechte Hand zur Faust, holt aus und schlägt M. in sein Grinsen.

Ich zucke zusammen, schaue weg, höre nur das wütende Geräusch seiner Knöchel gegen M.s Gesicht. Als ich wieder vom Tisch hoch zu M. sehe, bildet sich auf seiner Unterlippe ein Bluttropfen.

F. hat die Faust wieder gesenkt, scheint erst nach Worten zu suchen und sie dann doch nicht zu finden. Stattdessen sieht er M. einfach nur an, abwartend, ob er zurückschlagen wird, aber das tut er nicht. Er setzt sich nur, sieht mich an und fragt nüchtern: „Welchen Adressaten schlägst du vor?"

F. kramt aus seinem Rucksack einen Kugelschreiber gemeinsam mit einem zerfledderten Block hervor und lässt sich dann kommentarlos auf seinen Stuhl fallen.

Plötzlich ist alles ganz normal – als wäre nichts gewesen schreiben wir die Rede über Doping, während auf M.s Unterlippe das Blut trocknet, F. die Rangordnung festgelegt hat und jeder im Stillen weiß, dass niemals jemand von uns darüber sprechen wird, wie F. M. einfach so ins Gesicht geschlagen hat.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now