2. Schwarze Socken und Apfelringe

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[F.]

M. und ich stehen vor einer großen Kiste, in der ein aufgewühlter bunter Haufen aus Sockenpaaren liegt, der eigentlich gar nicht bunt ist, weil Männersocken meistens schwarz sind.

„Pfirsichringe oder Apfelringe?", stellt M. die wichtigen Fragen des Lebens.

„Apfelringe", antworte ich sicher. „Pfirsich ist eklig."

„Ich mag Pfirsich", argumentiert M.. „Ich mein, Pfirsicheistee ist auch voll in Ordnung."

Ich zucke mit den Schultern, sehe dann von der Tonne schwarzer Socken auf und in den Gang zur Frauenabteilung. Und ganz plötzlich spannt sich mein ganzer Körper an, es wird warm, es wird kalt, es flimmert, es wankt. Mir wird schlecht. Und trotzdem starre ich hin. Unaufhörlich.

M. redet, während ich einfach stehen bleibe und starre.

„Ich mein ja nur, dass Apfelringe nicht zwangsläufig besser sind als Pfirsichringe", erzählt mein bester Freund hinter mir.

Und ich stehe immer noch und starre.

„Welche Socken willst du eigentlich?"

Verdammte Scheiße, ist sie schön geblieben, so unverbraucht, so unverraucht. Sie ist immer noch dünn, immer noch blond und lächelt immer noch, als läge die gesamte Unschuld der Welt in ihrem Herzen, als wäre sie das einzig Gute auf diesem Planeten.

„F.?", höre ich M. fragen.

Ich will mich umdrehen, wegsehen, aber ich kann nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie da steht. Mit ihrem geblümten Sommerkleid, mit ihren dünnen porzellanfarbenen Armen, denen man all das Leid, das sie ertragen musste, kaum ansieht.

Ihre Narben auf Knochen und Seele liegen verborgen, werden ertränkt in ihren nordseeblauen Augen.

„Ist das?", fragt M. hinter mir.

„Charlotte", bestätige ich – immer noch unfähig, den Blick abzuwenden.

Sie steht ganz allein da, begutachtet ein weitausgeschnittenes dunkelrotes Oberteil, das auf der Stage hängt. Es würde ihr stehen – alles würde ihr stehen. Unwillkürlich fällt mir wieder ein, wie es war, sie zu küssen, sie auszuziehen, wie sie gerochen hat, wie weich ihre Haut war, diese eine Narbe auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels. Mir fällt ihr Lieblingsbuch ein, ihr Lieblingsessen.

Mir fällt ein, wie sie auf meiner Fensterbank geraucht hat, dass sie keinen Alkohol trinkt.

Mir fällt ein, dass ich nicht da war, als ich es versprochen hatte.

Mir fällt ein, dass ich da mein Koks nicht vertragen habe und im Krankenhaus war anstatt bei ihr.

Ich habe sie nicht vergessen, ich habe nur an anderes gedacht.

Ich habe nach niemanden gesucht, der ist wie Charlotte, und ich habe auch Charlotte nicht mehr gesucht. Ich wollte, dass sie geht und nicht zurückkommt. Ich wollte es so verdammt sehr. Und einige Frauen und einige Gramm später fiel es mir auch immer leichter. Ich mochte den Gedanken, dass sie in Heidelberg ihr Glück findet, dass sie dort endlich frei von allem ist.

Und trotzdem.

Trotzdem stehe ich hier und starre.

Fünf verdammte Jahre und siebenundsechzig verdammte Tage dachte ich möglichst an alles, außer an sie.

Und sie steht da, schaut sich das freizügige Top an und ich stelle mir vor, wie es wäre, es ihr auszuziehen.

Dann dreht sie sich um, ein Mann rutscht ins Bild – groß, blonde Locken, mit Poloshirt und kurzer Hose. Sie lächelt ihn an, ganz strahlend, und sagt etwas.

Mir wird schlecht.

Er begutachtet ihr Oberteil, schüttelt den Kopf. Sagt nein. Plötzlich legt sich Enttäuschung in ihre Mimik, sie nickt ihm trotzdem zustimmend zu und dann, ganz flüchtig, dreht sie sich zu mir.

Und bleibt genauso erstarrt stehen, wie ich es tue.

Wir sehen uns einfach nur an.

So, wie wir uns schon immer einfach nur angesehen haben. Wortlos, weil keine Worte unsere Gefühle beschreiben können, weil niemand außer uns versteht, was wir sind.

Ein Lächeln formt sich auf ihren Lippen, ganz flüchtig, wie ihr Blick zu mir, und dann schaut sie wieder weg.

Ihre Begleitung zeigt auf eine blaue Bluse, Charlotte nickt, und dann verschwindet sie langsam aus meinem Blickfeld.

„Ich brauch was zu kiffen", murmle ich zu M.

„Bin dabei", meint er zustimmend. 

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now