19. Wahnsinnig, aber frei

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[M.]

Es ist Januar, Silvester liegt hinter uns und Plakate werben mit Rabatten für Fitnessstudios.

Es ist der letzte Tag der Winterferien – der letzte Tag, bevor ich in der zweiten Mannschaft das erste Mal zum Training erscheinen soll.

Ich sollte packen, Elena treffen oder fürs Abitur lernen.

Ich liege kopfüber von der Couch in der Werkstatt von J.s Eltern, die nicht da sind.

„Krass, dass übermorgen was ganz Neues beginnt", meine ich. Das Gras zieht meine Mundwinkel nach oben und macht mich melancholisch zugleich.

Wir sind jetzt Freunde, glaube ich.

„Soll vorkommen", meint F., der abgelenkt die Werkbank von J.s Vater begutachtet.

Sie ist staubig, dreckig und das Innere eines Autoradios präsentiert sich in der Mitte der Arbeitsfläche – mit Drähten, die wie Gedärme herausragen. F. greift danach.

„Fass es nicht an", ermahnt J., der auf dem Drehstuhl sitzt und sich hin und her dreht, ihn.

O. sitzt auf der Treppe, die hinauf in den Hausflur führt. „Willst du da jetzt eigentlich hin?", fragt er mich neugierig.

F. dreht sich von der Werkbank weg und sieht mich prüfend an.

Er weiß, was ich denke.

Das Thema hatten wir schon.

„Hab keine Wahl", erkläre ich und rapple mich auf. „Ich mein, ich hab den Vertrag unterschrieben, meine Eltern haben gezahlt..." Ich seufze. „Ich komm aus der Scheiße nicht mehr raus."

Jetzt folgt ein Lachen. Meine Verzweiflung.

„Als ob. Sag doch einfach, dass du keinen Bock hast", schlägt J. vor.

„Das geht nicht. Mein Vater bringt mich um." Ich fahre mir durch die Haare. „Müsste mir schon das Bein brechen oder noch besser; für immer spielunfähig sein."

„Für immer spielunfähig?", fragt O.

„Ja, so eine klassische Fußballerverletzung haben wie zertrümmerte Kniescheibe. Danach darfst du ewig nicht spielen."

Die Jungs nicken verständnisvoll.

„Wie bekommt man die?", will F. wissen.

„Keine Ahnung – jemand tritt dir rein oder so." Ich greife nach seiner Jeansjacke, um das Baumaterial für einen neuen Joint heraus zu kramen.

„Und würdest du das sein wollen?", hakt F. währenddessen nach.

„Was?"

„Für immer spielunfähig", vervollständigt J.

Ich zucke mit den Schultern. „Es wäre wahrscheinlich das Beste. Es wäre nicht meine Schuld, weil es ein Unfall wäre und ich müsste nie wieder Fußball spielen. Niemand würde jemals erwarten, dass ich Profi werde und ich könnte endlich mein Leben so leben, wie ich es will." Ich schmunzle. „Wäre schon ganz geil."

Ich will mich aufs Drehen konzentrieren, aber halte inne, als F. seinen Vorschlag bringt.

„Was ist, wenn wir dir die Kniescheibe brechen?"

„Scheiße, wie high bist du?", will J. geschockt wissen.

„Nein, jetzt ernsthaft – wir schlagen mit irgendwas drauf und dann sagen wir, dass du von der Treppe gefallen bist. Du muss nie wieder spielen, kannst mit deinem Leben endlich machen, was du willst und musst nie wieder nach jemandes Pfeife tanzen. Klar, Fußball ist dann für lange bis für immer gestrichen – aber wen juckts?"

„M., hör nicht auf ihn. F. ist drauf, der weiß in zehn Minuten gar nichts mehr davon", versucht J., mir ins Gewissen zu reden, aber er sieht den Blick, das Grinsen, das F. und ich austauschen.

Wir sind wahnsinnig.

So verdammt wahnsinnig.

„Wenn wir das machen, dann machen wir das alle gemeinsam", lege ich fest.

„Alter, ernsthaft?", will O. wissen.

Ich nicke. „Das ist wie mit Ronja, das ist wie mit dem Kiffen in den Pausen, wie mit den Autos anzünden und allem anderen. Wenn wir Scheiße bauen, dann gemeinsam."

F. nickt. „Wie beschissene Musketiere."

„Nur nicht für Frankreich, sondern für uns", antworte ich.

Wir sehen uns wissend an.

„Gegen den Druck", sagt F. „Alle dabei?" Sein Blick geht durch die Runde. O. nickt, ich nicke, nur J. nickt nicht. „Das können wir nicht machen", will er protestieren. „Habt ihr eine Ahnung wie viel da schiefgehen kann?"

„Jetzt sei keine Pussy", rollt F. mit den Augen. „Er will es schließlich."

„Genau", bestätige ich.

J. presst die Lippen aufeinander, atmet tief durch, beugt sich dem Gruppenzwang. Dann sieht er zur Werkbank seines Vaters, geht hin und nimmt einen alten abgenutzten Hammer.

„Welches Knie willst du?", fragt er ernst.

„Links." Weil ich Rechtsfüßer bin.

„Jeder von uns schlägt einmal zu. Dann stecken wir alle mit drin", befiehlt F.. J. und O. stimmen zu.

Ich stimme auch zu.

„Das wird wirklich verdammt wehtun", erklärt mir J. ein letztes Mal. „Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?"

„Wir müssen das tun", sage ich entschieden.

Alles, was danach kommt, weiß ich kaum noch. Es verschwimmt. Meine Erinnerungen verschwimmen. Ich weiß noch, dass F. mir sagt, dass ich die Augen schließen soll, damit ich es nicht sehen muss.

Ich weiß, dass es so unbeschreiblich wehtut, als der Hammer gegen meine Kniescheibe schlägt, die unter dem Druck wie eine Wand nachgibt.

Es knackt.

Laut.

Dann schreie ich vor Schmerz. Ich brülle, ich weine, ich blute. Es zieht sich alles in mir zusammen, verkrampft sich, um dem Schmerz standzuhalten. Ich kann nicht standhalten. Mein ganzer Körper vibriert, zittert, will nicht spüren, was er spürt.

Als ich einmal kurz die Augen öffne, sehe ich, wie sich meine Jeans dunkelrot färbt, obwohl sie eigentlich blau ist.

Es tut so schrecklich weh.

Und trotzdem befreit es mich.

Es ist wahnsinnig, aber der Schmerz befreit mich von dem Druck, von all den Erwartungen und der Gefangenschaft in meinem eigenen Leben.

Alle drei Schläge retten mich, während sie mich zerstören.

F., O. und J retten mich.

Vernunft führt nicht zu Freiheit, weil nur der Wahnsinn den kleinen Funken Leben sichern kann, den man für Freiheit hält.

Denn dafür leben wir; für den Moment, in dem wir glauben, zu leben. Der Moment, in dem es sich anfühlt, als könnte kein Knochen jemals brechen, obwohl jeder Knochen bricht. Das ist der Wahnsinn, der uns zu Helden macht, zu Legenden. Das ist der Wahnsinn, der uns zu Göttern macht.

Für diesen einen kleinen Moment, in dem wir leben, in dem wir frei sind, in dem wir unsterblich sind.

Dafür lohnt es sich, wahnsinnig zu sein.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now