1.

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Jeder von uns hat diese eine Person, die ihn für den Rest des Lebens lähmt. Die Person, bei der man irrationale Angst davor hat, sie an der Ampel auf der anderen Straßenseite zu sehen.

Diese eine Person, die etwas auslöst. Etwas so unbeschreiblich Schmerzhaftes, Leidvolles, dass man es mit Liebe verwechselt.

Es kann die Mutter sein, die einen nie wirklich wollen wird, die Schwester, die man nie übertreffen wird. Es kann der Vater sein, der nie ein Vorbild sein wird.

Und es kann das sein, was auch immer es ist, was F. für mich war.

Nicht die große Liebe, nicht die erste Liebe.

Nur die erste Sucht.

Der erste und letzte nie erfüllbare Wunsch nach Aufmerksamkeit, Beachtung, Wertschätzung.

Niemand den man lieben möchte, sollte.

Niemand den man brauchen möchte, sollte.

Niemand dem man alles von sich schenken möchte, sollte.

Wenn er auf der anderen Straßenseite stehen würde, darauf wartend, dass die Ampel von rot zu grün wechselt, dann würde ich mich wieder so fühlen, so angezogen und verloren, so allein, so schmerzverzerrt verliebt.

Aber er steht dort nicht. Natürlich nicht.

Er ist hunderte Kilometer entfernt.

Cornelia hakt ihren Arm bei mir ein, die Ampel wird grün und sie schleift mich über die Straße. „Noch fünfzig Meter und wir sind da", erzählt sie voller Vorfreude.

Drei Jahre ist es her, drei Jahre ist ein letzter Blick in seine viel zu kalten blauen Augen her.

Und noch immer brennt es auf der Haut, als würde man sie auf die Herdplatte drücken.

Noch immer ist er da, ohne da zu sein.

F. war Teil einer Welt, die ich niemals betreten wollte. Eine Welt voller Hass, Gewalt und düsterer Geschichten. Eine Welt voller Trauer und Frust, aussichtslos mit Drogen und Rebellion bekämpft.

Anstatt dem Wahnsinn zu entfliehen, hat er sich selbst darin verlieren wollen.

Und trotzdem klammere ich mich verzweifelt an das viel zu große Stück Erinnerung an ihn, das mich belügt und mir erzählt, dass er zu mir nicht so war, nicht so verletzend.

Er hätte auf mich aufgepasst, in seinen Armen wäre es sicher gewesen und die wenige Zeit, die er etwas zu lieben schien, liebte er mich.

Oder?

Oder?

Cornelia zieht mich zurück in die Gegenwart und an meinem Arm. „Wir sind da", meint meine braunhaarige Nachbarin aus dem Studentenwohnheim, der ich vor zwei Tagen noch die Haare auf drei Millimeter getrimmt habe.

In die Fassade des gelben Hauses mit verziertem Stuck ist über der ersten Etage groß das Baujahr eingemeißelt.

Achtzehnhundertsechsundneunzig.

Cornelia klingelt, es summt, wir hasten das Treppenhaus hoch bis in den zweiten Stock und begrüßen am Eingang Mathias, den Gastgeber. Wir haben zusammen Wirtschaftsrechtsvorlesungen.

Prompt verliert sich der Gedanke an F. in lauter Musik, Gelächter und klirrenden Flaschen.

Mathias stellt mir einen Freund vor, Jakob, der von seinem Segelflugschein erzählt. Ich tue interessiert, höre mir an, wie teuer sein Flugzeug war. Zu Jakob gesellt sich Melissa und erzählt von ihrem ersten Flug, der nach Australien ging, dort hat sie ihr Backpacker-Jahr gemacht.

Sie war auch in Nepal, zwei Wochen allein – das hat ihr geholfen, sich selbst zu finden.

Ich fühle mich verbittert, wenn ich ihnen zuhöre, wie sie Reisen machen und Hobbys haben, die ich nie haben wollte. Wie Weihnachten bei ihnen wohl ist?

Jakob versucht bestimmt zu verheimlichen, dass er wiederholen muss.

Melissa wird die Jungfrau sein, die eigentlich schon zerfickt ist.

Alles ist so gelogen.

Sie leben in ihrer Blase, in der alles gut ist, während alles schlecht ist und immer schlechter wird.

Sie wollen sich politisch engagieren, aber sich nicht anstrengen.

Sie haben eine Familie, die sie liebt und beschweren sich über ihre Besuche.

Irgendwo zwischen Markenklamotten, Bierflaschen und Unterhaltungen über Musik, die ich nicht mag, beginne ich mich wie eine Aussätzige zu fühlen, obwohl ich weiß, dass ich hier keine bin.

Es ist nicht mehr wie in der Schule – hier gehöre ich dazu, weil niemand weiß, wo ich herkomme und wer ich bin.

Hier mache ich auch diese Reisen, habe auch diese Hobbys, höre auch diese Musik.

Manchmal wird es mir zu viel, das Theater spielen. So wie jetzt.

Also sage ich Mathias, Jakob, Melissa und Cornelia auf Wiedersehen. Mit Verlassen des Altbaus streife ich die Hülle des Mädchens ab, das in Australien war, all ihre Narben vom Reiten hat und immer zufrieden ist. Ich atme tief durch, werde wieder zu mir.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now