23. Druck wird ausgeritzt

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[J.]

Der Schlüsselbund fällt mit einem Klirren auf den Boden des Flures, das durch meinen Kopf zieht wie ein lautes Kreischen. Es zerstört die perfekte Stille, die mich gerade so umarmend in meiner Wohnung empfangen hat.

Ich bin zu müde, um mich nach ihm zu bücken, also lasse ich ihn achtlos liegen, während ich auf dem Weg ins Bad anfange, mich Stück für Stück von meinen Klamotten zu befreien. Kraftlos stelle ich mich unter die Dusche, mache das Wasser an und zucke nicht zusammen, als es erst mit einem eisigen Strahl den kalten Schweiß und Dreck von meiner Haut wäscht.

Nach und nach wird es wärmer.

Nach und nach werde ich leerer.

Es begann schon zu brüllen, als ich in der Tiefgarage den Motor abgeschaltet habe, brüllte meinen Kopf zusammen, hat mich tausende Gedanken denken und trotzdem gar nicht denken lassen.

Mühevoll habe ich mich aus meinem Auto und die Stufen hinauf in mein Stockwerk schleifen müssen, habe nicht dem Drang nachgegeben, einfach stehen zu bleiben und mich nie wieder zu bewegen.

Und jetzt kann ich spüren, wie das warme Wasser aus dem Duschkopf hinabprasselt, beruhigend rauscht, als würde es mir ein Schlaflied singen.

Langsam lasse ich mich an den kalten Fliesen entlang auf die weiße Keramik des Duschbeckens sinken.

Manchmal, da ist das so.

Da helfen selbst die Antidepressiva nicht mehr.

Ich kann nicht wie M. jedes negative Ereignis verdrängen und so tun, als würde es nicht existieren, kann nicht wie F. alles in Blättchen verrauchen und mit dem funkelnden Schnee so lange wachbleiben, dass mich nie ein Albtraum heimsuchen wird.

Und mir kann es nicht egal sein, wie es O. egal ist.

Heute ist jemand gestorben.

Heute haben wir eine Leiche verscharrt.

F. hat sie umgebracht.

Mein bester Freund ist ein Mörder.

Ich kenne einen Mörder.

Wir werden es totschweigen, als hätte es nicht existiert.

Es ist wie damals, als wir Ronja totgeschwiegen haben.

Ich kann spüren, wie mein Herz schneller schlägt und versuche, mich zu beruhigen. In der Therapie habe ich Skills gelernt – Achtsamkeitsübungen, um in Momenten wie diesen die Kontrolle zu behalten.

Zaghaft beginne ich auf meinen linken Oberschenkel meinen Nachnamen Buchstaben für Buchstaben zu schreiben, während ich gleichzeitig versuche, auf meinem rechten Oberschenkel meinen Vornamen zu schreiben.

Es funktioniert nicht.

Weder das parallele Zeichnen der Buchstaben noch die Übung als Ablenkung an sich. Stattdessen fühle ich mich nur kaputter, als wäre ich ein Wahnsinniger, der in die Klapse gehört. Alleine die Tatsache, dass ich diese Übung kenne zeigt doch nur, dass ich ein Psycho bin. Dass ich krank bin.

Ich bin krank und kranke Leute sind nichts wert.

Ich bin bedeutungslos.

Niemand braucht mir zu sagen, dass diese Gedanken schlecht sind, dass ich sie nicht denken sollte.

Ich weiß das, aber trotzdem fühlen sie sich an wie die absolute Wahrheit.

Ich sollte schlafen.

Also rapple ich mich auf, bringe mich mit Überwindung dazu, diese Dusche wirklich zum Duschen zu nutzen und stehe irgendwann später vor meinem Badezimmerspiegel. Seit das Wasser aufgehört hat zu regnen, ist das Geräusch der Leere wieder unerträglich laut.

Der beschlagene Spiegel sagt mir, dass ich meinen ungleichmäßig gewachsenen drei-Tage-Bart abrasieren sollte, also greife ich in das Regal unter dem Waschbecken und ziehe eine Packung Ersatzklingen für einen Rasierer heraus.

Dabei habe ich eigentlich einen elektrischen Rasierer.

Meine Finger sind ganz ruhig, umklammern das dünne Metall nicht, wie sie die Schaufel umklammert haben.

Vollkommen bedacht schneidet die Klinge durch die Haut meines Bauches. Es brennt etwas, erinnert mich daran, wieder irgendwas zu fühlen.

Es folgt ein zweiter Schnitt.

Tiefer.

Schmerzender.

Das Gefühl der Leere entweicht in meinem Blut, das an meinem Nabel vorbei hinab läuft.

Noch ein Schnitt.

Genauso tief.

Genauso schmerzend.

M. kann es austricksen, F. kann sich zudröhnen, O. kann es nicht fühlen und ich; ich kann diesen gesamten niederschmetternden Druck ausritzen.

Aufmerksam beobachte ich im Spiegel, wie es weiter fließt und mich wieder runterbringt, mich zerstört und gleichzeitig heilt. Ein schiefes Lächeln formt sich auf meinen Lippen, dann gehe ich einfach so ins Schlafzimmer, lege mich ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und schlafe ein.

Als ich aufwache, ist alles wie ein verwirrter, wahnsinniger Albtraum.

Dann finde ich mich in einem Café wieder, gegenüber von Emma und Louis, und beobachte aufmerksam eine Kellnerin, die ihren ersten Tag zu haben scheint und unsicher von Tisch zu Tisch läuft, während das Café völlig überfüllt mit Kindern und Pärchen ist.

Müde lächelnd stütze ich mein Gesicht auf meine Handflächen.

„Du solltest nicht mehr so viel saufen, dann siehst du auch besser aus", erklärt mir Emma großspurig. Sie hat einen Latte Macchiato vor sich stehen, dessen Schaum langsam abnimmt.

„Ich sauf aber gerne viel, dann muss ich mir keine peinlichen Pärchenabende mit Netflix geben", erkläre ich trocken und lehne mich zurück. Bei der Bewegung zieht sich mein Oberkörper schmerzhaft zusammen. Ob es der Muskelkater vom Ausheben des Grabes oder die neuen Ritzerwunden sind, weiß ich nicht genau.

„Sehr reif", höre ich meine Schwester antworten.

Ich zucke mit den Schultern. „Kennst mich doch. Also, wieso sollten wir zusammen frühstücken gehen?"

Louis beginnt in seinem Rührei zu stochern.

„Wir wollten Details mit dir wegen der Hochzeit besprechen." Erfreut greift Emma nach Louis' Hand. Ihm scheint's unangenehm zu sein, denn er meidet es, mich anzusehen.

„Was für Details?"

Emma lässt kurz eine Pause entstehen, ehe sie antwortet. „Ich will nicht, dass du die Jungs mitschleppst."

„Wow." Fassungslos starre ich sie an. „Willst du mich verarschen?", zische ich dann leise, damit uns niemand von den anderen Gästen hören kann. „Das ist behindert."

„J., ganz ehrlich: Deine Freunde sind Wichser. Ich will nicht, dass ihr meine Hochzeit ruiniert. Du weißt ganz genau, wie viel Geld Papa und Mama das Ganze kostet."

Und es ist reine Verschwendung, so viel für etwas zu bezahlen, das eh wieder aufgelöst wird, sobald Louis genug Eier hat, sich zu outen. Wir leben im 21. Jahrhundert, Homosexualität ist mittlerweile gesellschaftsfähig und er tut immer noch so, als wäre es etwas Unnatürliches.

„Dann lade ich keine langjährigen Freunde von uns zu deiner Hochzeit ein." Ich nehme einen Schluck von meinem laktosefreien Cappuccino.

„Das klingt, als wären sie auch Freunde von mir." Wären sie auch irgendwann bestimmt mal geworden – hätte F. Emma nicht ein paar Mal zu oft flachgelegt und ihr dann das Herz gebrochen, um sich lieber von Charlotte sein eigenes zerstören zu lassen. Ich fürchte, dass sie es ihm nie vergeben hat, aber ich bin froh drum, dass er es getan hat.

Das Geheule hatte sie verdient.

„Also, nur damit das klar ist: Die kommen nicht, verstanden?" Emma sieht mich eindringlich an.

Ich seufze und nicke dann. „Verstanden, Schwesterherz." Anschließend ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und öffne WhatsApp, während Emma beginnt, das Thema zu wechseln.

Zieht euch einen Anzug an, Jungs: Wir gehen zur Hochzeit meiner Schwester.

Der Club der WichserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt