3. Es geht ums Gefühl

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[O.]

„Steh auf!"

Mit einem Ruck wird mir die Decke weggezogen.

Es ist kalt.

Es wird kälter.

Es wird nass.

Mein Vater schüttet einen Eimer eiskaltes Wasser über mich.

Mir fehlt die Luft, das Duschwasser ist zu kalt. Schwer atmend drücke ich den Hahn wieder runter und damit zu. Es wird ausgestiegen, abgetrocknet, Handtuch umgeschlungen und kurz den Spiegel angesehen.

Blaue Augen, nasse blonde Haare, kantiges Gesicht, das sich Jahre unter Speck versteckt hat, leichte Dehnungsstreifen am Bauch, weil die Haut zu schnell aufgebläht und wieder gestrafft wurde, kaum Brusthaare, blonde Stoppel am Kinn, eine feine Narbe dazu.

Da hat F. zugehauen.

Ich wende den Blick ab, greife nach der Zahnbürste, nach der Zahnpasta, putze meine Zähne.

Zwei Minuten lang. So lange, wie man sie putzen muss, sonst werden sie gelblich oder man bekommt Karies.

Ich will, dass meine Zähne weiß und gesund sind.

Nach dem Zähne putzen lege ich alles wieder an seinen gewohnten Ort zurück, verlasse das Bad, ziehe mich im Schlafzimmer an.

Simpel in T-Shirt, es ist schließlich ein warmer Samstag im August, und Jeans.

Das Handtuch bringe ich zum Trocknen zurück ins Bad, gehe dann noch einmal auf Toilette, gehe mental meine Einkaufsliste durch, während die Pisse in die Kloschüssel rauscht.

Äpfel, Taschentücher gegen die Pollen, irgendetwas für morgen zum Frühstücken und Waschpulver.

Ich schüttle ab, spüle meinen Urin runter und wasche mir die Hände. Im Hausflur ziehe ich mir meine Schuhe an, Chucks, und schnappe mir meinen Autoschlüssel, Mercedes.

Der Supermarkt ist vom Haus am See etwas zu weit entfernt für meinen Geschmack, aber immerhin nicht mehr in der Fußgängerzone wie früher. Jetzt ist er in einem neu angelegten Industriepark neben einer Filiale einer Drogeriemarkt-Kette, einem Schuhgeschäft und einem Klamottenladen. Generell scheint die gesamte Stadt in den letzten zehn Jahren größer geworden zu sein, hat vom Tourismus der Region profitiert und ist an manchen Stellen trotzdem immer noch ganz die Alte.

Der Stadtkern ist identisch, die Kneipe, die Elena von ihrem Vater übernommen hat, ist unverändert. Der Buchladen, in dem F. einmal die Woche Charlotte besucht hat, hat hingegen geschlossen. Stattdessen ist er jetzt ein Geschäft für Seifen, das wahrscheinlich schlecht läuft.

Die Buchhandlung haben sie ersetzt durch eine größere, die zu einer Kette gehört und im neugebauten Einkaufszentrum steht.

Der Parkplatz des Supermarkts ist überfüllt mit hässlichen, ranzigen Familienautos, die sich in winzige Parklücken quetschen.

Es ist Samstagmorgen. Jetzt kriecht jeder aus jedem verschissenen Dorf im Umkreis von sieben Kilometern aus seinem Bett, aus seiner Wohnung, seinem Haus und geht einkaufen.

Es dauert ewig, bis ich meine Einkäufe beieinanderhabe. Als ich an der Kassenschlange stehe, dreht sich ein alter Mann zu mir um.

„Haben Sie nur das?"

„Ja."

Er bedeutet mir, dass ich vor darf.

Ich bezahle Äpfel, Taschentücher gegen die Pollen, irgendetwas für morgen zum Frühstücken und Waschpulver.

13,76 Euro.

Zu Hause angekommen lade ich die Einkäufe wieder aus, schmeiße die Waschmaschine an und sehe mich danach schon wieder im Rückspiegel des Autos.

Ich fahre ins Altenheim, besuche meine Großmutter, die wegen zu hohem Blutdruck schon ganz dicke Beine hat, und erzähle ihr von meiner Woche.

Im Job läufts gut, Versicherungskaufmann zu sein ist langweilig, aber akzeptabel. Ich erzähle ihr von meinem Vater, seiner neuen Frau und ihrem gemeinsamen Sohn, davon, dass ihre Auswanderung nach Mallorca geglückt ist und sie sich gut eingelebt haben. Sie haben ihre Hotelkette erweitert – das Geschäft läuft ganz gut.

Sie fragt nach meiner Freundin, ich lächle es weg. Mia ist noch in Hamburg, sage ich. Mia ist wirklich in Hamburg, zusammen mit ihrem neuen Freund Erik. Seit fünf Jahren.

Meine Großmutter ist alt, gebrechlich und wird langsam dement. Irgendwann wird sie Mia vergessen haben, genauso wie mein Vater und seine neue Frau, ihr Hotel auf Mallorca, meinen Job als Versicherungskaufmann oder gar, dass ich sie jeden Samstagnachmittag besuche.

Ich fahre wieder nach Hause, mache mir eine Tütensuppe essbar, esse sie, schaue mir weiter meine Serie an und sehe dabei trotzdem regelmäßig zur Uhr.

Zehn Uhr dreißig, da treffen wir uns in der nächstgrößeren Stadt. Dieses Mal bin ich Fahrer.

Es ist zehn Uhr fünfundvierzig in der nächstgrößeren Stadt, zu der man über die Autobahn fahren muss, F. zündet seelenruhig einen Joint an, zieht den ersten Zug, atmet im Licht der Straßenlaterne aus und gibt ihn dann weiter an M.

Wir sind älter geworden, aber die Reihenfolge, wer wann rauchen darf, hat sich nie verändert.

Wir gehen rein, bekommen trotz Nobelclub Stempel auf den Handrücken gedrückt und drücken uns an den Türstehern vorbei ins Innere.

„Hey, O., ich hab noch was für dich", meint F. und schiebt mir etwas in die Tasche meines Jacketts. Wir wissen beide genau, dass es das kleine feine Pulver ist, das Mädchen einschlafen lässt, wenn sie ihren Drink brav austrinken.

Es ist eine kleine Braunhaarige, die neben ihren blonden Plastik-Freundinnen verloren aussieht.

Sie ist eins von den Mädchen, denen man nie glaubt, dass ihnen etwas passiert ist.

Eins der Plastik-Mädchen geht ganz von selbst auf M. zu – seine Unfähigkeit, schlecht zu sein, machts möglich. J. versucht, sich ein Bier zu organisieren, etwas, was F. schon geschafft hat, der sich jetzt neben mich an die Bar lehnt. Er beobachtet die Leute um sich herum, sucht sich seine Nächste, wobei jeder von uns weiß, dass er heute keine suchen wird.

Nicht, wenn er Charlotte haben kann.

M. hat es erzählt, ganz beiläufig, und F. hat nur mit den Schultern gezuckt – obwohl wir alle wissen, dass Charlotte alles andere als ein Schulterzucken für ihn ist.

„Wir ficken alle irgendwen, den wir nicht ficken sollen", sage ich zu ihm. Die kleine Braunhaarige trinkt brav ihren Cocktail, lacht mit ihren Plastik-Freundinnen, zumindest mit der, die M. für uninteressant befunden hat. Ihre Brüste sind kleiner.

F. zuckt mit den Schultern.

Mein Blick bleibt bei dem unschuldigen kleinen Lämmchen, das nachher Tränen in den Augen haben wird, weil mein Schwanz bis zum Anschlag in ihrem Hals stecken wird. Vielleicht wird sie es aber auch gar nicht merken.

„Am Ende haben wir eben alle doch nur Sex, um irgendwas zu fühlen", sagt F.

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