21. Komm nicht zurück

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[F.]

Charlotte hat sieben Monate und achtzehn Tage kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. Nicht in der Schule, nicht im Plattenbau.

Charlotte ist zu Frau Winkelmann in eine Wohnung im Stadtzentrum gezogen.

Ich bin nicht mehr in die Buchhandlung gegangen, um sie zu sehen. Hab nach der Schule nicht mehr an der Bushaltestelle auf sie gewartet, mich im Bus nicht mehr neben sie gesetzt.

Hab mich stattdessen lieber mit Emma getroffen, mit Emma rumgemacht, mit Emma geschlafen.

Auf dem Pausenhof hat Charlotte jetzt immer neben Elena und den anderen Mädchen aus der Stufe gestanden und hat fröhlich gelacht, während wir Jungs hinter der Sporthalle gekifft haben.

Irgendwann in diesen sieben Monaten und achtzehn Tagen hat sie dann angefangen, neben Moritz zu stehen, der ihre Hand gehalten hat oder sie geküsst hat.

Sie ist oft mit ihm in seinem schwarzen tiefergelegten Golf nach Hause gefahren. Zu ihm. Oder zu Frau Winkelmann.

Irgendwann hatte sein Auto plötzlich einen Kratzer in der Tür von meinem Schlüssel, aber das hat er nie herausgefunden.

Hat sich nur drüber aufgeregt.

Mittlerweile hat jeder von uns die Abitur-Prozedur hinter sich. Außer J., der zu lange in der Klinik war und das Schuljahr wiederholen muss.

Und jetzt?

Jetzt steht dieses Mädchen, das so mager ist wie ein Model aus einer Casting-Show mit den langen blonden Wellen vor meiner Haustür und sieht zu mir auf.

Sieben verdammte Monate und achtzehn verdammte Tage hat sie kein Wort mit mir gewechselt.

Und jetzt steht sie hier.

„Hey", sagt sie leise.

„Was willst du?"

Ja, Charlotte. Was zur Hölle willst du noch von mir?

„Darf ich reinkommen?"

Sieben verdammte Monate und achtzehn verdammte Tage.

Ich trete zur Seite und sie tritt herein.

Die Haustür schließt.

„Morgen haue ich ab."

„Wohin?"

„Nach Heidelberg."

Wir schauen uns an. Sie spricht, ich hör mich brechen.

Endgültig brechen.

Sie geht.

Sie geht.

Verdammte Scheiße – sie geht!

„Ich komme nie wieder zurück", sagt sie, wendet den Blick nicht von mir ab. „Meine Mutter weiß davon nichts. Ich hab auch schon eine WG in Heidelberg gefunden, einen Job finde ich auch noch. F., ich hab das ganze Geld meiner Eltern geklaut. Ich hab mir ein Ticket für den Reisebus gebucht. Ich ..."

Ich küsse sie.

Es ist viel zu ruckartig, zu plötzlich, um wirklich romantisch zu sein. Es ist die Angst davor, nie wieder die Möglichkeit zu haben, sie zu küssen.

Sie erwidert es nicht, sieht mich unsicher an, als sich meine Lippen schnell wieder von ihren lösen.

„Tut mir leid", murmle ich. Es tut mir nicht leid.

„F., nach allem, was passiert ist. Was ihr mit Ronja getan habt ... Ich ..." Sie bricht den Satz ab und sieht mich einfach nur an. Ich kann sehen, wie es ihr bewusst wird, wie ihr bewusst wird, dass das, was uns verbindet, weit über alles hinaus geht, was einem als verständlich erscheint.

Sie und mich, uns, verbinden die Narben auf Seele und Haut.

Das ist keine Liebe.

Das ist Leid.

Leid, das brennt, weil das Herz gebrandmarkt wird, weil das pochende Fleisch mit einem orange glühenden Eisen einen schwarzen, verkohlten Abdruck bekommt.

Es wird mehr brauchen als sieben verdammte Monate und achtzehn verdammte Tage, um sich von dem Gedanken aneinander zu lösen.

Und sie geht.

Sie geht einfach.

Verdammte Scheiße – sie geht!

„Du bist kein schlechter Mensch nur weil du Fehler machst", beginnt sie, ihre eigenen Gefühle zu rechtfertigen. Sie versucht zu rechtfertigen, dass sie nie ein Wort über Ronja verloren hat. Sie versucht zu rechtfertigen, dass es okay wäre hier zu sein, mir zu sagen, dass sie weggeht, dass sie das Bedürfnis hat, sich von mir zu verabschieden.

„Lotte, du musst das jetzt echt nicht machen." Bitte versuch nicht, mich nicht zu hassen.

„F., ich ..." Sie hält inne, dann sieht sie mir in die Augen, so wie ich ihr auch in die Augen schaue. Mit diesem einen Blick, den man im Leben nur einer Person zuwerfen kann.

Ohne weiter zu zögern, zieht sie mich zu sich herunter und küsst mich.


Wer kann von Liebe sprechen, wenn nur der blanke Hass angebracht wäre?

Wie zur Hölle kann man sich so dermaßen zu einer Person hingezogen fühlen, die einen nur brechen kann?

Die einen verletzlich macht – der man so viel Vertrauen schenken muss, wohlwissend, dass sie es nie verdienen wird?

Wie zur Hölle kann Charlotte mich lieben, wenn ich so viele schlimme Dinge tue?

Ihr Kuss fühlt sich gut an, so weich und verlässlich. Als verspräche sie mir damit, dass sie mir gehört. Zumindest jetzt.

Jetzt in dem Wohnungsflur, in der zweiten Plattenbaute, mit den dünnsten Wänden der Welt.

Ich will nicht aufhören, sie zu küssen. Ich umschließe ihre Taille, drücke sie enger an mich.

Irgendwann später liegt sie in meinem Bett, nackt in meinen Armen und streicht zaghaft über meine Brust. Ich will nicht wissen, was sie denkt, ob sie sich schämt oder ob sie glücklich mit mir ist.

Ich will nur die Augen schließen und es genießen.

Der Wecker klingelt, als es draußen noch dunkel ist, und trotzdem war ich verdammt lange nicht mehr so glücklich, so wach.

„Aufstehen, Kleines", murmle ich Lotte ins Ohr und ziehe ihren nackten Körper trotzdem noch näher an mich.

Sie murmelt irgendetwas Unverständliches.

„Soll ich dich zum Bahnhof begleiten?" Ich streiche ihr durch die Haare. Sie schüttelt den Kopf, sagt, dass das nicht nötig sei, drückt mir einen Kuss auf die Wange und steht dann auf. Charlotte sucht sich ihre Klamotten zusammen, die verstreut in meinem Zimmer herumliegen und deckt ihren vernarbten, aber trotzdem wunderschönen Körper mit Unterwäsche, Pulli und Jeans zu.

Ich seufze, stehe auch auf und ziehe mir lediglich meine Boxershorts über, weil ich nachher eh wieder ins Bett krieche.

Dann stehen wir wieder an der Wohnungstür. „Versprichst du mir, dass du nie wieder zurückkommst?", bitte ich sie, weil ich weiß, dass nur das sie wirklich glücklich machen wird.

Sie lächelt. „Ja."

„Und dass du das für nichts und niemanden jemals tun wirst?"

Charlotte nickt. „Ja." Jetzt sind da Tränen.

„Auch nicht für mich", flüstere ich. Auf keinen Fall für mich.

„Auch nicht für dich", flüstert sie zurück, sieht mich mit ihren verdammten nordseeblauen Augen an, als wäre ich für sie alles, obwohl ich nicht alles sein darf.

Nicht alles sein kann.

Nicht alles verdient habe. 

Der Club der WichserDonde viven las historias. Descúbrelo ahora