16. Der König des Wunderlands

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[J.]

„Hast du noch eine Parabelschablone?" Emma lehnt sich gegen meinen Schreibtisch.

„Ja, klar. Oberste Schublade irgendwo", murmle ich, ohne meinen Blick vom Fernseher abzuwenden, auf dem ich gerade mit einem Golfcart übers Sperrgebiet fliege.

Emma beginnt derweil, in meiner Schublade zu wühlen.

„Ich finde das nicht", beschwert sie sich kurz darauf.

Ich seufze, pausiere und wende den Blick zu ihr. „Dann ist es wohl nicht da."

„Ja, aber ich brauch das."

„Ja, aber dann hol's woanders", äffe ich ihren fordernden Tonfall nach.

„Hast du deine Tage oder wieso bist du zickig?", zieht sie mich auf.

Ich rolle mit den Augen, wende mich wieder Grand Theft Auto zu und spiele kommentarlos weiter.

Irgendwo in der Wüste, kurz vor der Stadtgrenze zu Las Venturas, wird mein Golfcart abgeschossen. Emotionslos schaue ich zu, wie die Kamera in die Vogelperspektive wechselt und zentriert auf dem Bildschirm Wasted steht.

„Verpisst du dich jetzt endlich?", frage ich Emma gereizt, die immer noch vor meinem Schreibtisch neben der Zimmertür steht.

„Ja, muss eh gleich los", meint sie beiläufig und will schon wieder gehen, da kommt in mir plötzlich der Drang auf, zu fragen, wo sie hinmöchte.

„Treff mich mit F." Da ist ein schwärmerischer Unterton, eine Vorfreude, die selbst – auch wenn ich Emma hasse und sie es verdient hat, verarscht, unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu werden – nicht da sein sollte.

Sie sollte sich nicht mit F. treffen – er sollte sich nicht mit ihr treffen wollen.

In meinem Kopf taucht wieder das Bild davon auf, wie sie während unserer Geburtstagsparty auf der Küchenzeile sitzt und er ihr die Zunge in den Hals schiebt.

Ganz leidenschaftlich, damit Emma sich ganz besonders fühlt.

So wie sie sich jetzt fühlen muss, weil er sich nach ewig andauernder Funkstille bei ihr gemeldet hat – vielleicht um Ronja zu verdrängen, um alles zu verdrängen.

Um Zeit und Gedanken, Gefühle und all die anderen Unannehmlichkeiten zu vertreiben.

„Wieso?", will ich von Emma wissen, was er ihr vorgelogen hat. Sie kann doch nicht ernsthaft glauben, dass da auch nur ein Funke ehrliche Aufmerksamkeit für sie dahintersteckt?

Die hebt er sich sorgfältig auf, die Aufmerksamkeit.

Für uns.

Für Charlotte.

Fürs Joint drehen.

„Das war eigentlich ganz süß ...", beginnt sie, immer noch schwärmerisch. Bestimmt war es das. Er hat Talent darin, den Leuten zu erzählen, was sie möchten, was sie brauchen. So wie er uns allen einreden konnte, dass jeder von uns Ronja brauchte und wollte.

Ronja würde uns frei machen, frei vom Druck, hatte er gesagt und dabei ein Strahlen in den eisigen blauen Augen gehabt, als wäre es die Wahrheit.

Du wirst dich niemals, verdammt niemals so frei fühlen wie in dieser Nacht, hatte er uns für die Dunkelheit prophezeit, in der Ronja sich gefangen gefühlt hatte wie niemals, verdammt niemals zuvor.

Sie kam mit ihrer Freundin Katharina, lachte mit uns und erhielt von F. einen klitzekleinen Funken Freiheit, gerade so viel, um sie süchtig zu machen – um mehr zu wollen – um mehr zu trinken, um mehr tun zu wollen. Hauptsache frei werden.

Katharina sagte irgendwann, dass sie müde sei und jetzt nach Hause gehen würde.

Ronja blieb.

Sie kuschelte sich an F., der seinen Arm um sie gelegt hatte und sie in Sicherheit wiegte. Dann ein kleines Lächeln und ein Nicken zu uns, wobei er nur mich ansah. Das war das erste Mal, dass ich den Wahnsinn in seinen Augen bemerkte und diese eine Seite an ihm, die so viel kälter war, als er es spielen könnte.

Keine Boshaftigkeit, nur Irrsinn.

In diesem Moment sah man, dass er der König des Wunderlands war. Kein einfacher Bewohner, kein Besucher – er war der Herrscher, der Anführer, der Drahtzieher. Er saß auf dem Thron und niemand sonst.

Nicht boshaft, nur wahnsinnig.

Voller Chaos, voller Schwarz. Voller Liebe und Hass, voller Wut und Zärtlichkeit – voller Widersprüche, als könnte er jedes Gefühl gleichzeitig und dann doch wieder nichts fühlen. In ihm musste ein Wirrwarr aus Gedanken stecken, Fetzen, die bestimmt Klarheit, Ordnung und Vernunft ergeben würden, wenn man sie zusammensetzen könnte.

Doch bei dem Versuch, das Puzzle in seiner Seele zu puzzeln, würde jedes Mal ein Teil verloren gehen – es ist unmöglich, in seinem Chaos die Ordnung zu sehen, in seinem Wahnsinn die Vernunft, in seinen Fetzen ein Bild.

Er flüsterte Ronja irgendetwas ins Ohr, sie kicherte, drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann nahm er sie an der Hand und ging mit ihr nach oben. In das Schlafzimmer von O.s Eltern.

Das Schlafzimmer, in dem wahrscheinlich schon seit Jahren niemand mehr gefickt wurde.

Der Sekundenzeiger drehte sich neun Mal an der Uhr im Wohnzimmer, bis F. wieder herunterkam und ganz still eine Mutprobe aussprach. Ein Vertrauensbeweis.

Du gehörst dazu, wenn du dich bewiesen hast – zeig, dass du Macht hast. Zeig, dass du die Kontrolle hast. Zeig, dass du wahnsinnig bist. Zeig, dass du gut genug bist, um meine Anerkennung zu verdienen.

Ich weiß, dass O. als erster ging. Dann ging M. und zum Schluss ich.

Wir redeten nicht darüber, wer in Ronja kam, wer auf Ronja kam oder wer nicht kam.

Wir tranken einfach weiter, verrauchten die grünen Zuckerstreusel und blieben im Wunderland.

„J., ist alles gut?", fragt Emma plötzlich besorgt.

Ich zittere, es ist kalt. Es ist so verdammt kalt, dass meine Armhärchen sich aufstellen und meine Brustwarzen hart werden.

Mir ist schlecht.

So verdammt schlecht.

Die Galle steigt mir bis in den Mund, ich schlucke sie herunter und schaue meine Zwillingsschwester an.

Lächle, verdammt.

Lüge!

Sie wird sich mit ihm treffen – mit dem König des Wunderlandes.

„Sorry, ich glaub, ich werde krank oder so", murmle ich zu Emma, die so wenig Interesse an meinem Leben hat, dass ihr gar nicht auffällt, wie dürftig ich sie anlüge.

„Dann mach dir einen Tee", meint sie nur. „Also, ich bin dann mal weg – viel Spaß dir noch bei was auch immer." Sie deutet mit einer kreisenden Handbewegung auf die Playstation und den Fernseher.

„Danke, dir auch", sage ich ohne einen Anflug von Gefühl, weil Emma ins Wunderland fallen wird und ich ihr nicht heraushelfen kann und will.

Du kommst nicht aus dem Wunderland heraus, außer der König verbannt dich.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now