6. Zweite Mannschaft

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[M.]

„Wie war die Schule?", fragt mein Vater mich am Mittwochabend am Esstisch.

Wir sehen uns nur alle paar Tage, weil er immer auf Achse ist.

Ich zucke mit den Schultern. „Geht, mein Physik-Lehrer meinte gestern, dass ich Nachhilfe nehmen sollte."

Papa lacht.

„Der weiß aber, dass das zeitlich nicht passt, oder?"

„Erik", ermahnt ihn meine Mutter und legt ihre Hand auf seinen Unterarm.

Er seufzt. „Ich mein doch nur. Der Junge hat schon genug um die Ohren, als sich jetzt auch noch mit sowas herumzuschlagen. Ich finde, der Typ könnte auch bisschen Rücksicht nehmen."

Ich sage nichts dazu, beiße lieber in mein Käsebrot und beobachte, wie meine kleine Schwester Leonie versucht, mit einem Löffel die Marmelade aus dem Glas zu ihrem Milchreis zu balancieren.

„Ich hab übrigens noch eine gute und eine schlechte Nachricht für dich, M. Welche willst du zuerst?"

Meine Aufmerksamkeit wendet sich wieder meinem Vater zu, der breit grinst.

„Die schlechte zuerst?", frage ich stirnrunzelnd.

Er nickt, fährt sich dann durch die graugesträhnten braunen Haare.

„Die Leitung vom Nachwuchszentrum hat abgesagt."

„Was?"

„Ja, als du letztes Wochenende gespielt hast, war auch der Scout vom BVB da. Wir haben uns unterhalten und entschieden, dass es unsinnig ist, dich in deinem letzten Schuljahr rauszunehmen. Er hat mir aber auch erzählt, dass trotzdem noch großes Interesse an dir besteht und sie dich gerne als Spieler hätten."

„Aha", meine ich nur.

Leonie löffelt unbeeindruckt von dieser Neuigkeit ihren Milchreis. Sie ist die Einzige von uns Geschwistern, der keine Fußballkarriere aufgedrückt wird. Stattdessen darf Leonie reiten gehen, mit Freundinnen Puppen spielen und sich entspannen.

Vielleicht liegt es daran, dass mein Vater in ihr schlichtweg kein Potenzial gesehen hat.

Als Leiter einer Sportleragentur, deren Aufgabe es ist, Fußballern bei all ihren Lebensentscheidungen Händchen zu halten, sieht er sofort, wer später etwas wert sein kann und wer nicht.

Für ihn ist Leonie uninteressant, genauso wie meine älteren beiden Brüder, die nicht genug Disziplin und Ehrgeiz zeigen konnten.

Für ihn zähle nur ich.

Weil nur ich genug wert bin.

„Ich glaube, du hast das nicht ganz verstanden." Er runzelt die Stirn und ich ringe mir ein Lächeln ab.

„Doch, klar, ist eine coole Sache, aber muss ich dann nicht wegen jedem Training pendeln, wenn ich da nicht im Nachwuchszentrum wohnen kann?"

„Ach, mach dir da keine Sorgen. Den Sprit kannst du dann schon selbst zahlen."

Ich halte inne.

„Echt?"

Mein Herz pocht.

Er meint, dass ich selbst Geld verdienen kann. Mit Fußball.

„Die hätten dich generell nicht gern in der U19-Mannschaft, M., weil das Talentverschwendung wäre. Die wollen dich in ihrer zweiten Mannschaft, sobald du das Abitur fertig hast. Bis dahin spielst du U19, erste Mannschaft, weil du noch achtzehn bist. Ist das gut oder ist das gut?"

Stammspieler für die zweite Mannschaft ist der Aufstieg zu den Profis.

Ich muss lachen vor Freude. „Das ist der Wahnsinn! Danke Papa."

Er winkt ab. „Nichts zu danken – das hast du dir selbst erarbeitet. Wichtig ist nur, dass du weiter trainierst und dich immer weiter perfektionierst."

Ich will was sagen, aber meine Mutter fällt mir ins Wort. „Wichtig ist nur", sie betont es nachdrücklich, „dass du dich nicht übernimmst. Du kannst jeder Zeit aufhören, wenn es zu viel wird."

Mein Vater lacht. „Ach Quatsch, der übernimmt sich nicht."

Und dann fangen sie einfach an, das zu tun, was sie immer tun – nehmen mir das Denken ab, übernehmen die großen, schweren Entscheidungen, die mein Leben betreffen.

Und ich sitze da, lasse es zu, weil es einfacher ist, als dagegen zu sein.

Weil es eben schon immer so war.

„Ich geh Hausaufgaben machen", werfe ich irgendwann in ihre Unterhaltung ein und verschwinde dann in mein Zimmer. Es ist chaotisch, im Regal verstauben Pokale, auf dem Boden schwimmt die Dreckwäsche und auf dem Schreibtisch liegt ein Chaos aus Arbeitsblättern, die nie in den Schulordner eingeheftet wurden.

Erschöpft schleife ich mich zurück in den Flur, greife mir das Festnetztelefon und wähle die Nummer von Elena.

„Ich hab Bio noch nicht fertig, falls du das wissen willst", meldet sie sich. Grinsend werfe mich auf mein viel zu kleines Bett, sehe zur weißen Decke und spüre plötzlich das bisher unterdrückte Grau in meinem Bauch. Das Grinsen verfliegt und die Wahrheit, mein müder ausgelaugter, täglich über sein Limit gebrachter Körper ist wieder da.

„Du fehlst mir", sage ich zu Elena.

„Du mir auch. Denkst du, wir können uns diese Woche außerhalb der Schule sehen?"

„Keine Ahnung. Hab morgen Training, Freitag ist diese Gruppenarbeit und am Samstag muss ich spielen."

„Wie wäre es, wenn ich nach dem Spiel vorbeikomme?"

Ich seufze. „Können wir einfach abhauen?" Nur du und ich, ans Meer, für immer.

„Schatz, was ist los?", fragt Elena am anderen Ende der Leitung besorgt.

„Ach, keine Ahnung – vielleicht bin ich einfach müde." Ich presse die Lippen aufeinander, suche in der weißen Decke den Grund meiner endlos andauernden Erschöpfung.

„Bist du in letzter Zeit oft", murmelt Elena.

„Ich glaub, ich komm langsam an die Grenze, Lenny", gestehe ich leise. „Und ich weiß nicht, was ich dagegen machen kann. Ich mein, die aus der Mannschaft und so beschweren sich auch nicht. Und alle werden immer besser und besser und ich ..." Ich halte inne.

„Du hast Angst, dass du es nicht wirst", vervollständigt Elena und seufzt. „M., du bist großartig und kannst das alles erreichen, wenn du das möchtest." Sie macht eine Pause. „Möchtest du das alles überhaupt noch?"

Ich weiß nicht.

„Natürlich. Mein Pa hat mir vorhin erzählt, dass die mich beim BVB fest wollen. Ich darf zu den großen Jungs spielen gehen", erzähle ich ihr und bin nicht sicher, ob ich wirklich so stolz bin, wie ich mich anhöre.

„Uh, klingt, als werde ich dann Spielerfrau", lacht Elena.

Ich grinse. „Dann kaufen wir uns eine fette Villa und du kannst so viel malen, wie du möchtest."

„Das klingt schön." Ein Lächeln liegt in ihrer Stimme. „Wir schaffen das alles, M. Versprochen. Du bist wirklich gut und das weißt du, das weiß ich, das weiß dein Vater und das weiß auch der BVB. Mach dir keinen Kopf, okay?"

„Okay", antworte ich und nicke, obwohl sie es nicht sehen kann.

„Und jetzt geh Zähne putzen und pennen. Ich liebe dich. Wir sehen uns morgen."

„Ich liebe dich auch. Träum was Schönes."

„Von dir und mir in unserer Villa", lacht sie. „Schlaf gut, M." Elena legt auf.

Ich seufze, lege das Telefon auf den Nachtisch, ziehe mich bis auf die Boxershorts aus und gehe schlafen, obwohl es erst halb neun ist.

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