12. Emma schluckt

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[J.]

„Die haben ein Auto angezündet – unfassbar." Meine Mutter schüttelt den Kopf. Das Toastbrot mit Gouda und Butter krümelt ihr aus den Mundwinkeln auf den Teller, während sie erzählt. Auf den hässlichen hellblauen Teller aus dem schwedischen Möbelhaus, in dem wir auch meinen Kleiderschrank gekauft haben.

„Einen Mercedes. Der von den Schausters sogar", korrigiert mein Vater, ohne einen Blick von den Supermarkt-Prospekten zu heben. Heute gibt's Radler im Sonderangebot, Rasierschaum – zwei für den Preis von einem und diesen einen Unterschrank fürs Waschbecken im Badezimmer, den man auch in allen anderen Discount-Supermärkten und Möbelgeschäften findet. Ab Donnerstag gibt es dann endlich Schwarzwälder Schinken reduziert, und Deodorant. Außerdem sind parallel griechische Wochen, was bedeutet, dass man Zaziki, Gyros-Fleisch und Feta in besonders hässlicher blau-weißer Verpackung bekommt, damit auch der letzte geografisch unbewanderte Hinterwäldler das Gefühl erhält, ein Grieche zu sein.

„Schausters? Sind das nicht die, die dieses schimmlige alte Bauernhaus gekauft haben?", fragt meine Mutter.

„Ja, genau. Das sind die mit den beiden Mädchen."

„Hach, diese Mäuschen sind so süß. Weißt du J., das sind die aus der Gruppe, die mir immer Bilder malen", erzählt mir meine Mutter. Ich würde gern sagen, dass ich wüsste, wen sie meint, aber um ehrlich zu sein, hören sich alle Geschichten aus ihrem Erzieher-Alltag gleich an. Irgendein Kind hat ein Bild gemalt, dessen Inhalt nur es selbst versteht. Irgendwer hat angefangen zu weinen, weil er mit einem Spielzeugauto gehauen wurde. Irgendwer hat sich eingepinkelt.

Irgendwelche Windeln.

Irgendwelche Eltern.

Irgendwelche Kinder.

Alltag.

„Was für Gestörte das sein müssen", kommt mein Vater auf den brennenden Benz zurück. Im Matratzen-Geschäft an der Kreuzung gibt es jetzt Bettdecken zum Sonderpreis.

Ich sage nichts dazu. Ich würde auch gerne mal einen Benz anzünden. Vielleicht nehmen mich F. und M. mal mit?

Meine Schwester ist gestern aus dem Internat zurückgekommen. Sie hat den Freitag frei – ein Ausgleichtag für irgendeine Schulveranstaltung.

Mit ihren ähnlichen Haaren wie meinen und ähnlichem Gesicht wie meinem, beobachtet Emma mich, während sie ganz ruhig ihr übertrieben gesundes Hafer-Himbeer-Müsli in ihre hässliche Fresse schaufelt. Vielleicht sind sich unsere Gesichter doch nicht so ähnlich.

Gestern Abend, als ich in ihr Zimmer gekommen bin, um nach einem karierten Collegeblock für die unnötige Zeichnung für Biologie, zu fragen, wollte sie wissen, wie gut ich F. kenne.

Gar nicht, hab ich gesagt.

Ich hab ihm meine Nummer gegeben, hat Emma gesagt. Und er ruft einfach nicht an oder schreibt mir. Das ist voll scheiße, hat Emma gesagt.

Selbst Schuld, hab ich geantwortet.

Ich hasse Emma.

Von ganzem Herzen.

Ich empfinde keine Geschwisterliebe.

Ich empfinde das Äquivalent. Geschwisterhass.

Emma ist widerlich. In allem besser. In allem beliebter. In allem besonders.

Besonders kreativ.

Besonders klug.

Besonders.

Ihr Kiefer zermahlt mit ihren Zähnen das Müsli in ihrem Mund. Besonders.

Ich hoffe, sie verschluckt sich.

Ich hoffe, ihr bleibt der gesunde Hafer in der Luftröhre stecken, behindert die Sauerstoffzufuhr und damit auch ihr Leben.

Aber das passiert nicht.

Sie schluckt einfach herunter.

Ob sie F.s Sperma auch einfach heruntergeschluckt hat wie ihr Müsli? So ganz ohne sich zu verschlucken.

Die brave, liebe Emma, die auf das katholische Mädcheninternat geht und keine Jungs kennt, steckt dem kiffenden Wichser die Zunge in den Hals. Auf dem Küchentresen, an dem unsere Mutter das Abendessen zubereitet.

Und irgendwie macht selbst das sie besonders.

Und irgendwie macht selbst das mich eifersüchtig.

Wie kann sie mir ihn wegnehmen?

Wie kann diese dumme Schlampe mir alles nehmen?

Alles nehmen, was mir etwas bedeutet?

„Wenn das irgendwer mit unserem Auto machen würde, dann würde ich den windelweich prügeln", betont mein Vater seine Wut. In der Technik-Handelskette mit zweihundertdreißig Filialen im Land, gibt es ab Montag das neuste Handy mit Touchscreen für nur einen Euro Anzahlung. Dafür muss man aber die nächsten zwei Jahre vierzig Euro im Monat zahlen.

„Ach Papa, das macht doch keiner", meint Emma beschwichtigend. Ich würde es machen. Auch bei unserem Auto. Bei verdammt nochmal jedem Auto in verdammt nochmal jeder Straße in verdammt nochmal jedem Ort.

Emma ist naiv.

Mein Handy vibriert laut auf dem Tisch. „Du bekommst eine SMS?", fragt mein Vater verwirrt und selbst die dumme Emma schaut mich erstaunt an, als wäre das ein Wunder.

„Ja, ich hab auch Freunde", meine ich trocken und nehme das klobige Handy vom Tisch.

Es ist O.

O.: Hast du Bock das Wochenende bei mir rumzuhängen? Meine Eltern sind nicht da.

Sind die anderen auch dabei?

O.: M. meint ja.

Okay.

Achtzehn Cent Handy-Guthaben für ihn ausgegeben. Jeder normale Mensch hätte seine Einladung abgelehnt, aber wir nehmen sie an. O. ist reich, wohnt in einem Glaskasten auf der anderen Seite vom See und hat einen beheizten Pool. Deswegen nehmen wir die Einladung an.

Deswegen – und weil wieder ein Funken Freiheit winkt.

Der Club der WichserWhere stories live. Discover now