Kapitel 25

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„Atmen sie ganz tief ein", fordert Dr Radtke mich auf, während seine Finger den Drainageschlauch umklammern. Sofort nehme ich einen tiefen Atemzug durch die Nase und umklammere die Hand von Barbara, welche an meinem Bett sitzt, um mir beizustehen, ein wenig fester. „Und jetzt ganz kräftig ausatmen, so kräftig wie Sie können!"

So kräftig ich kann, puste ich sämtliche sich in meiner Lunge befindende Luft durch den Mund aus. Das ist der Moment, in dem ich ein schmerzhaftes Ziehen zwischen meinen Rippen spüre. Ein erschrockener Laut entweicht meinen Lippen und ich zerquetsche Barbaras Finger mit meiner Hand.

„Das wars schon", erklärt Dr Radtke mir und entsorgt den Schlauch, der bis vor wenigen Sekunden noch in meinem Körper gesteckt hat, im Müll.

„Sie haben mir nicht gesagt, dass das weh tun würde", werfe ich meinem Arzt vor und sehe ihn empört an, während ich dennoch erleichtert den Kopf in mein Kissen sinken lasse.

„Ich werde Ihnen nun einen sterilen Druckverband anlegen. Die Fäden können Sie in zehn Tagen von Ihrem Hausarzt ziehen lassen", erklärt Dr Radtke mir freundlich und bringt mithilfe seiner Assistentin den sterilen Druckverband an. „Dennoch würde ich Sie bitten noch möglichst Bettruhe einzuhalten. Auch nach Ihrer Entlassung und sich langsam zu steigern"

„Und wann werde ich entlassen?", möchte ich wissen.

„Morgen früh werden meine Kollegen in der Radiologie eine abschließende Röntgenaufnahme machen", erklärt Dr Radtke mir und blickt zwischen Barbara und mir hin und her. „Wenn sich alles gut entwickelt, steht einer Entlassung zu morgen Nachmittag also nichts im Wege"

Obwohl meine Mutter, Barbara und ich dank Carlos Angebot nicht zurück zu meinem Vater müssen, erfüllt mich der Gedanke an meine Entlassung mit Angst. Was, wenn mein Vater erfährt, wo wir uns aufhalten? Es kann sich überhaupt nur um ein Wunder handeln, dass meine Mutter dem Vorschlag, bei Carlos unterzukommen, angenommen hat. Doch ein Wort meines Vaters würde genügen, um Mama davon zu überzeugen mit ihm nach Hause zu kommen. Was tue ich, wenn es dazu kommt? Einerseits kann ich sie schlecht mit ihm alleine lassen, doch andererseits will ich unter keinen Umständen mit diesem Mann unter einem Dach sein. Zu groß ist meine Angst vor dem, was er imstande ist zu tun.

Es wundert mich ohnehin, dass er bisher keinen Fuß in dieses Krankenhaus gesetzt hat, um uns aufzusuchen. Ich denke an den Tag zurück, an dem er mich das erste Mal verprügelt hat. Am darauffolgenden Tag hat er mir gesagt, ich solle die Spuren seiner Gewalttat auch in seiner Gegenwart verdecken. Er konnte mir kaum ins Gesicht sehen. Vielleicht ist er deshalb nicht hier. Weil er sich nicht ansehen kann, was er mir angetan hat. Bereut er es, gewalttätig zu sein? Aber wenn dem so ist, wieso tut er es dann immer wieder, statt sich selbst vorzunehmen, sich zu bessern?

Ich werde ihm niemals verzeihen, was er mir angetan hat. Immerhin versucht er nicht einmal, sich zu bessern. Er ist und bleibt für immer dasselbe Monster, das seine Tochter fast ins Grab geprügelt hat. Dasselbe Monster, das regelmäßig seine Frau verprügelt. Erst gestern ist mir ein blauer Fleck am Arm meiner Mutter aufgefallen, der eindeutig von ihm stammen muss. Ich frage mich, wieso Mama nicht einsehen kann, was für ein Monster ihr Ehemann ist. Nicht einmal jetzt, wo ich hier liege, will sie es einsehen.

„Vielen Dank", bedanke ich mich bei Dr Radtke und seiner Assistentin, die soeben mit dem Druckverband fertig geworden sind. Erleichtert schiebe ich mein Patientenhemd wieder herunter, sodass mein mit Blutergüssen übersäter Brustkorb nicht länger zur Schau gestellt wird.

„Sollten Sie im Laufe des Tages irgendwelche Beschwerden entwickeln, drücken Sie bitte sofort die Patientenklingel", sagt Dr Radtke und zieht sich die Handschuhe aus. „Wir sehen uns dann morgen nach dem Röntgen"

„Vielen Dank, Doktor", bedankt Barbara sich. Dr Radtke zieht die Mundwinkel nach oben und nickt uns anerkennend zu, ehe er und seine Assistentin das Krankenzimmer verlassen.

Die leichten Schmerzen an meinem Brustkorb ignorierend, setze ich mich auf und greife nach meiner leeren Wasserflasche, die auf meinem Nachtschrank steht.

„Gib her", sagt Barbara und erhebt sich von ihrem Stuhl, um mir die Flasche aus der Hand zu nehmen. „Ich hole dir eine neue Flasche" Barbara verlässt mein Zimmer, wobei sie die Tür hinter sich einen Spalt weit offen stehen lässt nur um keine Minute später gleich mit zwei vollen Flaschen Wasser zurückzukommen. Sie füllt mein Glas und reicht es mir.

„Was würde ich nur ohne dich machen?", frage ich und nippe an der kühlen Flüssigkeit, die mir wohltuend den trockenen Hals hinabläuft, ehe ich das Glas wieder auf den Nachtschrank stelle.

Lächelnd sehe ich die Frau mittleren Alters an, die ich kenne, seit ich denken kann. Mein ganzes Leben lang hat sie sich um mich gekümmert als sei ich ihre eigene Tochter. Sie hat mich getröstet, wenn ich traurig gewesen bin und mit mir gelacht, wenn ich glücklich war. Barbara habe ich all meine Geheimnisse anvertraut, sie um Rat gefragt, wenn ich nicht weiter wusste. Sie ist wie eine zweite Mutter und eine beste Freundin zugleich.

„Ich habe eine Frage.. es ist aber eine sehr private Frage", sage ich.

„Nur zu", erwidert Barbara lächelnd und streicht mir liebevoll über das braune Haar.

„Hast du dir je eigene Kinder gewünscht?", frage ich also neugierig.

Das Lächeln auf ihren Lippen erstirbt jäh und ich spüre, wie sie zurückweicht. Offensichtlich scheint das eine wirklich intime Frage zu sein und sofort bereue ich es, sie gestellt zu haben. „Tut mir leid, falls ich dir damit zu nahe getreten bin. Du musst das nicht beantworten", sage ich sofort und schüttele heftig mit dem Kopf.

„Es hat sich für mich einfach nie ergeben, eigene Kinder zu bekommen", erwidert die Frau mittleren Alters und klemmt sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinter das Ohr, welche sich aus ihren zusammengebundenen Haaren gelöst hat. Es wirkt einstudiert.

Dabei wirft sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und erhebt sich von dem Stuhl, welcher an meinem Krankenbett steht. „Carlos Fahrer holt mich gleich ab, ich sollte allmählich nach unten gehen", stellt Barbara fest. Zum Abschied greift sie nach meiner Hand und drückt diese sanft, ehe sie den Raum verlassen möchte.

„Barbara", halte ich sie ein letztes Mal auf. Sofort bleibt sie stehen und sieht mich durch den Raum hinweg an. Fragend hebt sie ihre Augenbrauen. „Danke, dass du immer für mich da bist"

„Natürlich", erwidert sie mit einem Lächeln auf  ihren Lippen, ehe sie mir ein letzte Mal zuwinkt und die Tür hinter sich zuzieht.

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