Kapitel 38

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Als ich meine Augen wieder öffne, befinde ich mich nicht mehr mit Carlos und Lucian im Esszimmer. Für einen Augenblick glaube ich sogar, dass all das nur ein Traum gewesen ist und Carlos jeden Augenblick zu mir ins Zimmer stürmt, um mich zu beruhigen.

Doch je länger ich die Tür ansehe, desto unwahrscheinlicher wird es, dass das passiert und desto realer werden diese grausamen Bilder in meinem Kopf.

„Du bist wach", höre ich Barbaras schwache Stimme neben mir sagen. Ich sehe sie an. Sie sieht schrecklich aus. Ihren braunen Augen sind gerötet und sie wirkt zutiefst mitgenommen.

Carlos.

„Wo ist er?", frage ich besorgt. „Wie geht es ihm?" Die Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchen und Carlos blutend am Boden liegend zeigen, sind unerträglich. Ich kneife die Augen zusammen, doch die Bilder wollen nicht weggehen.

Was, wenn er tot ist? Was, wenn mein Vater ihn meinetwegen getötet hat?

„Carlos lebt. Er ist im Krankenhaus und liegt auf der Intensivstation, weil er sehr viel Blut verloren hat. Aber er ist außer Lebensgefahr", teilt die Frau mittleren Alters mir mit und schluchzt leise.

Ich spüre, wie mir ein Stein vom Herzen fällt. Carlos lebt.

„Ich muss zu ihm", sage ich sofort und richte mich auf, doch Barbara drückt mich an den Schultern wieder in die Matratze zurück.

„Das geht nicht", erwidert sie bedacht ruhig und dennoch bestimmt. „Er braucht viel Ruhe. Außerdem ist es schon spät. Wir fahren direkt morgen früh. Okay?"

Obwohl ich es keine Sekunde länger aushalte ohne mich selbst davon zu überzeugen, dass Carlos wirklich am Leben ist, nicke ich.

„Was ist mit ihm?", frage ich Barbara und meine damit meinen Vater. Ich bringe es nicht über mich ihn nach allem, was geschehen ist, länger als solchen zu bezeichnen. Ein liebender Vater tut seiner Tochter so etwas einfach nicht an.

„Die Kugel hat ihn nur an der Schulter erwischt", antwortet Barbara und scheint es fast schon zu bedauern. Ich kann es ihr nicht verübeln. Nach allem was er jedem von uns angetan hat, wünsche ich mir auch, dass er tot wäre. „Aber er wird wohl nicht mehr so schnell auf freien Fuß kommen. Sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird, wird die Polizei ihn festnehmen. Sie bewachen sein Zimmer bereits"

„Ich hoffe sie sperren ihn für immer weg", murmele ich und senke meinen Blick auf meine Finger, die längst nicht mehr das Blut des Mannes an sich haften haben, der mir geschworen hat, mich zu beschützen. Nach den Geschehnissen des heutigen Abends kann ich mit Sicherheit sagen, dass Carlos dies sogar mit seinem Leben tun würde.

Erst jetzt merke ich, dass Barbara die mit Samt überzogene bordeauxrote Box mit dem Ring aus dem Juweliergeschäft in ihrer Hand hält.

„Er hat mir versprochen, mich zu beschützen. Aber er verlangt nicht, dass ich ihn heirate, solange ich nicht dazu bereit bin", erzähle ich Barbara.

„Du bist mir keine Erklärung schuldig", sagt Barbara und stellt die Box auf dem Nachttisch ab. „Wenn du ihn gern hast, dann ist das alles, was zählt"

Barbara haucht mir einen Kuss auf den Scheitel und erhebt sich von dem Stuhl, der an meinem großen Himmelbett steht. „Du solltest dich weiter ausruhen", sagt Barbara und will sich von mir abwenden, um den Raum zu verlassen. Schnell greife ich nach ihrer Hand. Sie bleibt stehen und neigt den Kopf in meine Richtung.

„Ich habe dich und meine Mutter lieb, Barbara", teile ich ihr mit. Natürlich habe ich nicht vergessen, dass sie mich mein Leben lang belogen haben, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass sie immer für mich da gewesen sind und mich bedingungslos geliebt haben. Die Angst, die ich um sie gehabt habe, hat mir gezeigt, dass sie mir nach wie vor wichtig sind. Ich will einfach, dass sie es wissen.

Man sollte den Menschen, die einem wichtig sind immer sagen, dass man sie liebt, bevor es eines Tages möglicherweise zu spät ist. Es wird einen sonst bis zum Rest des Lebens verfolgen.

„Ich weiß", erwidert Barbara und drückt meine Hand leicht. „Ich spreche auch im Namen deiner Mutter, wenn ich sage, dass wir dich auch lieb haben"

„Gute Nacht, Barbara", flüstere ich leise. Die Frau mittleren Alters verlässt den Raum, sodass ich alleine zurückbleibe.

Mit zittrigen Fingern greife ich nach der Ringschachtel und hole den Ring heraus; ein weißgoldenes Modell mit einem kleinen, schlichten Hauptstein. Die Ringschiene ist mit noch kleineren Steinen besetzt.

Es ist der Ring, den ich damals im Schaufenster gesehen habe, nachdem Carlos und ich das erste Mal im Brautmodegeschäft gewesen sind. Ich habe nicht einmal ein Wort darüber verloren, doch Carlos muss gemerkt haben, wie ich den Ring angesehen habe.

Schluchzend stecke ich den Ring zurück in die Schachtel und klappe sie zu.

Daraufhin erhebe ich mich von dem großen Himmelbett und verlasse das Gästezimmer. Vor Carlos geschlossener Schlafzimmertür bleibe ich schließlich stehen.

Ich weiß nicht, ob er es gerne sehen würde, dass ich ungefragt reingehe, doch ich kann nicht anders. Ich lege mich in sein Bett und ziehe die schwere Decke bis zu meinem Kinn hoch. Mit geschlossenen Augen atme ich den vertrauten Duft des jungen Mannes ein, der sich zwischen die Waffe meines Vaters und mich gestellt hat, um das Versprechen einzuhalten, welches er mir gegeben hat.

Ich habe nie gewollt, dass er meinetwegen verletzt wird. Eine Weile liege ich einfach nur da und stelle mir vor, dass Carlos neben mir liegt, bis ich irgendwann vor Erschöpfung einschlafe.

***

Am nächsten Morgen bringt Carlos Fahrer Barbara und mich zum Krankenhaus. Wir erreichen die Intensivstation, wo uns mitgeteilt wird, dass nur eine Person zur Zeit zu ihm darf, weshalb Barbara beschließt, draußen auf mich zu warten.

Meine Knie beginnen zu zittern, als die Pflegerin mir das Zimmer mit der geöffneten Schiebetür zeigt, in dem Carlos sich befinden soll. „Herr García, Sie haben Besuch", teilt die Pflegerin, deren Rücken mir die Sicht auf den jungen Mann versperrt, ihm mit.

Carlos müden grünen Augen beginnen sofort zu strahlen, als ich den Raum betrete und er mich sieht. „Emilia", murmelt er mit schwacher Stimme und streckt seine Hand nach mir aus. „Ich dachte dir sei etwas passiert" Er wirkt erleichtert, dass dem nicht so ist.

Ich schüttele den Kopf. „Mir geht es gut", sage ich mit zittriger Stimme und setze mich zu ihm ans Bett, wobei ich seine kühle Hand in meiner halte und zulasse, dass er meinen Handrücken streichelt. „Lucian kam gerade noch rechtzeitig und hat meinen Vater außer Gefecht gesetzt. Er war auch verletzt, aber laut Barbara ist Lucians Zustand stabil.."

„Gut, gut", kommt es erleichtert von ihm.

Meine Sicht verschwimmt, als sich meine Augen mit Tränen füllen. „Es tut mir so leid.. ich wollte nicht, dass das passiert", versichere ich Carlos und senke meinen Blick. Ich ertrage es nicht ihn so zu sehen und gleichzeitig bin ich einfach nur froh, dass er noch lebt. „Ich dachte du stirbst.."

„Bitte weine nicht", murmelt Carlos und zieht seine Hand aus meiner, um stattdessen nach meinem Gesicht zu greifen. Mit dem Daumen wischt er mir die Tränen fort, welche unaufhaltsam über meine Wangen laufen.

„Wieso hast du dich zwischen uns gestellt? Du hättest sterben können..", werfe ich Carlos vor, wobei meinen Lippen weiterhin verzweifelte Schluchzer entweichen.

„Ich lebe aber noch", teilt Carlos mir mit und will sich in seinem Bett aufrichten, hält jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht inne und sinkt sofort in die Matratze zurück.

„Tut es sehr weh?", frage ich direkt.

Carlos sieht mich zwar an, antwortet jedoch nicht auf meine Frage. Stattdessen greift er erneut nach meinem Gesicht und zieht es zu sich herunter, um mir einen sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen.

„Ich nehme die Schmerzen in Kauf, solange es dir gut geht, belleza", nuschelt Carlos gegen meine Lippen, ehe er einen letzten Kuss auf meiner Nasenspitze platziert und ich meinen Kopf an seine Schulter lege.

Ich bin so froh, dass er lebt.

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