Kapitel 32

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„NEIN!!", reißt mich Carlos Schrei aus meinem leichten Schlaf. Verwirrt reibe ich mir mit den Handballen über die müden Augen und starre in die Dunkelheit, die mich umgibt und ich setze mich in dem großen Himmelbett auf.

„BITTE NICHT! NEIN!"

Was ist denn bloß los? Ernsthaft besorgt erhebe ich mich von meinem Bett und eile in den Flur, wo ich vor der Tür zu Carlos Schlafzimmer stehen bleibe. Ohne zu klopfen reiße ich die diese auf, um einen sich in seinem Bett wälzenden, wimmernden Carlos vorzufinden.

„Carlos", sage ich eindringlich und rüttele leicht an seiner Schulter, um ihn zu wecken.

Offensichtlich träumt er schlecht. Er reißt seine Augen auf, aus denen ihm Tränen über das Gesicht laufen, und schießt nach oben, sodass er nun kerzengerade in seinem Bett sitzt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gebildet und er weint bitterlich.

„Es war nur ein Traum", versuche ich ihn zu beruhigen, denn seine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig und er wirkt noch ganz apathisch. Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, schlinge ich meine Arme um seinen bebenden Körper, um Carlos in eine sanfte Umarmung zu ziehen. In der Hoffnung, dass er sich allmählich wieder beruhigt, streiche ich ihm über den Rücken. Und siehe da, es scheint zu wirken; seine Atmung wird flacher und leiser und er vergräbt seinen Kopf in meiner Halsbeuge.

„Es war nur ein Traum", wiederholt Carlos meine vorherigen Worte mit schwacher Stimme, wobei ich seinen warmen Atem an meinem Hals spüre. Nun schlingt auch Carlos seine Arme um meinen Körper und für einige Minuten verweilen wir in unserer Umarmung, ehe wir uns aus dieser lösen.

„Was hast du geträumt?", frage ich und sehe ihn besorgt an. So wie Carlos geschrien hat, muss es wirklich schrecklich gewesen sein.

„Das spielt keine Rolle", erwidert dieser und ich lasse zu, dass er nach meiner Hand greift. Sanft streicht Carlos mir mit seinem Daumen über den Handrücken. Sein Blick geht an mir vorbei an die Wand hinter mir und ich kann es mir nicht verkneifen mich umzudrehen, um zu gucken, was dort ist. Mir fällt ein Bild auf, welches seine Mutter und ihn beim Spielen auf einem Klavier zeigt und ich staune nicht schlecht, als ich das Klavier von dem Bild nur wenige Meter weiter ebenfalls entdecke. Carlos muss zweifelsohne von ihr geträumt haben.

„Wieso bist du hier?", durchbricht Carlos meine Gedanken und als ich meinen Kopf wieder in seine Richtung drehe, sieht er mich bereits mit erhobenen Augenbrauen an.

„Du hast geschrien und.." Ich schlucke schwer, denn eigentlich will ich mich Carlos gegenüber nach all der Spannung, die die letzten Tage zwischen uns herrschte, nicht klein zeigen. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht", gestehe ich ihm schließlich doch, denn es ist die Wahrheit. Selbst wenn ich es nicht laut ausspreche, würde ich vor mir selbst nicht leugnen können, wie besorgt ich gewesen bin, als ich seine Schreie gehört habe.

„Ich hole dir ein Glas Wasser", sage ich direkt im nächsten Atemzug und sofort darauf erhebe ich mich von Carlos Bettkante und will zur Tür eilen, doch der junge Mann hält mich zurück, indem er nach meiner Hand greift. Mit hochgezogenen Augenbrauen blicke ich zu ihm hinab.

„Danke", sagt Carlos bloß und lässt gleich darauf meine Hand wieder los.

Als ich im Erdgeschoss des Hauses ankomme, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass in der Küche Licht brennt. Ich nähere mich der angelehnten Tür, hinter der ich eine Diskussion zwischen Barbara und meiner Mutter hören kann. Ihre Stimmen sind gedämpft. Es muss ernst sein und gleichzeitig scheint es nicht für meine Ohren bestimmt zu sein, weshalb ich wieder umkehren möchte, als plötzlich mein Name fällt.

Überrascht wende ich mich der Tür wieder zu. Ich weiß nicht, was mich dazu verleitet, doch statt in die Küche zu platzen und ihr Gespräch zu beenden, bleibe ich vor der angelehnten Tür stehen und höre ihnen zu. Immerhin scheint es auch um mich zu gehen und ich bin es wirklich satt, dass alle Angelegenheiten, die auch mich betreffen, stets ohne mich entschieden werden.

„Wenn Emilia das erfährt, wird es sie völlig aus der Bahn werfen", höre ich Barbara sagen.

Wenn ich was erfahre?

„Ich halte es nicht mehr aus", erwidert meine Mutter weinerlich.

Was hält meine Mutter nicht mehr aus? Wovon reden die beiden? In meinem Kopf spiele ich sämtliche Szenarien durch, doch keine von ihnen ergibt in irgendeiner Weise einen Sinn.

„Machen wir uns doch nichts vor; ich habe sie zwar aufgezogen, aber sie ist nie meine leibliche Tochter gewesen", sagt mein Mutter und mir stockt der Atem.

Es kostet mich einen Augenblick zu realisieren, was sie soeben gesagt hat. Ich bin nicht ihre leibliche Tochter und die Frau, die ich mein Leben lang Mama genannt habe, ist nicht meine leibliche Mutter. Aber heißt das auch, dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater ist? Bedeutet das, dass ich adoptiert wurde?

„Ich liebe Emilia wie mein eigen Fleisch und Blut.. aber sie ist deine Tochter, Barbara.."

Ich trete von der Tür zurück und starre mit weit aufgerissenen Augen und geöffneten Lippen auf den Lichtstrahl, der in den Flur scheint. In meinem Kopf wiederhole ich immer wieder die Worte meiner Mutter, die besagen, dass Barbara meine leibliche Mutter sein soll.

Das ergibt keinen Sinn. Denn warum sollten mein Vater und meine Mutter die Tochter ihrer Haushälterin als ihre eigene aufziehen?

Es sei denn.. nein.. mein Vater und Barbara? Mir wird schlecht. Alles um mich herum fühlt sich an wie in einem Film, der an mir vorbeizieht. Barbara ist immer Teil meines Lebens gewesen und hat sich um mich gekümmert, als sei ich ihr eigenes Kind. Dabei habe ich nicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass sie eventuell meine Mutter sein könnte.

Doch jetzt, wo ich es weiß, ergibt all das sogar einen Sinn. Jetzt weiß ich auch, wieso sie sich so seltsam verhalten hat, als ich gesagt habe, dass sie wie eine zweite Mutter für mich sei und als ich ihr vorwarf, dass es ihr all das nicht so egal sei, wenn es sich um ihre eigene Tochter handeln würde.

***

„Was ist passiert?", fragt Carlos besorgt, als ich ohne ein Glas Wasser zurück in sein Schlafzimmer komme.

Ich schaffe es gerade so noch die Tür hinter mir zu schließen, ehe meine weichen Knie unter meinem eigenen Gewicht nachgeben. Mit Tränen in den Augen sacke ich auf dem Boden zusammen. Meine Brust hebt und senkt sich schnell, dennoch glaube ich unter dem Druck, welcher sich um mein Herz legt, zu ersticken.

Mein Leben gerät immer mehr aus den Fugen und ich kann nichts dagegen tun.

Sofort springt Carlos von seinem Bett auf und kniet sich zu mir auf den Boden. „Sie haben mich angelogen, Carlos..", flüstere ich. „Mein ganzes Leben lang angelogen.." Schluchzend halte ich mir die Hände vor das Gesicht und schließe meine Augen, aus denen mir unaufhaltsam Tränen über die Wangen strömen.

Statt weiter nachzufragen, schlingt Carlos seine Arme um meinen Körper und zieht mich in eine sanfte, tröstende Umarmung und streicht beruhigend mit der Hand über meinen Kopf, während ich meinen Kopf an seiner Brust platziere und bitterlich weine.

____

Was sagt ihr dazu? Habt ihr damit gerechnet?

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