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„Diesen ganzen lästigen Papierkram werde ich bestimmt nicht so schnell vermissen", sagte ich grinsend zu Sue und beobachtete sie dabei, wie sie angestrengt ein Röntgenbild musterte.

Ich klappte seine Patienakte zu, in die ich kurz zuvor alle Werte eingetragen hatte und hängte sie zurück in die Schublade.

Es war sehr seltsam ihn fast unbekleidet zu sehen und zu berühren, zu wissen wie es um ihn stand, jedes kleinste Detail seines Körpers zu kennen - seinen Namen jedoch nicht.

Da er keinen Ausweis bei sich hatte und auch nach seinem Gesicht polizeilich anscheinend nicht gesucht wurde, gab es keinerlei Informationen über ihn.

Und wieder kam ich ins Grübeln.
In der Presse war bekannt gegeben worden, dass einige Beteiligte des Überfalles vorbestraft waren. Somit kannte die Justiz ihre Namen, ihre Gesichter und ihre Vorgeschichten.
Doch er war demnach scheinbar ein Unbekannter, sonst säße uns die Polizei schon seit gestern im Nacken.

War er bloß ein zufälliges Opfer der Tat?
Aber weshalb suchte dann niemand nach ihm? Vermisste ihn niemand? Hatte er keine Freunde oder Familie?

Die ganze Situation verwirrte mich.
Auf nichts konnte ich mir einen Reim machen.

Wer war er? Was tat er an dem Abend an diesem Ort? Wer hatte auf ihn geschossen?
Und ... hatte er vielleicht ebenfalls auf jemanden geschossen?

_

Die Gedanken verfolgten mich bis in den nächsten Tag hinein.

Nach meiner Schicht fiel ich todmüde ins Bett und fühlte mich auch nach acht Stunden Schlaf noch nicht fähig, den folgenden Tag komplikationslos zu überstehen.

Ich hatte meinem Opa versprochen ihm im Garten zu helfen und mich um das Ernten des Salates zu kümmern, den er neben diversen anderen Obst- und Gemüsesorten selbst anbaute.
Und das bereits seit langer Zeit.

Nachdem meine Oma vor drei Jahren starb, war sein eigener Anbau seine größte Freude geworden.

Jedes Mal, wenn ich sein Haus verließ, tat ich das mit unendlich viel gesundem Grünzeug in den Händen und schaffte es kaum, alles aufzuessen, bevor es schlecht wurde.

„Vielen Dank für deine Hilfe mein Kind", hörte ich meinen Opa sagen, der mit langsamen Schritten und einem Gehstock in der Hand auf das Beet zusteuerte, in dem ich kniete.

„Wenn ich dich nicht hätte, würde das alles hier ..." er zeigte mit seinem Stock auf die Beete und ließ seine Augen wandern „... total verkommen. Deine Oma hätte das nicht verkraftet, wenn sie es noch mitbekommen hätte."

Das stimmte wohl. Meine Großmutter hatte schon immer immensen Wert darauf gelegt, dass Haus und Garten in perfektem Zustand waren.
Es hätte ihr das Herz gebrochen, wenn alles verfallen worden wäre, weil mein Opa die Arbeit alleine nicht mehr bewältigen konnte.

Ihm zu helfen tat ich aber nicht nur aus reinem Pflichtgefühl heraus, sondern vor allem, weil er mir alles bedeutete.
Nach dem frühen Tod meiner Eltern waren er und Oma meine einzige Familie.
Die beiden nahmen mich bei sich auf, gaben mir ein Zuhause, sorgten liebevoll für mich und stellten ihre eigenen Bedürfnisse weit hinten an.
Und das, obwohl sie selbst die Trauer über den Verlust ihres Sohnes und seiner Frau kaum verarbeiten konnten.

Doch wir hatten irgendwie gelernt damit klar zu kommen.
Unser Leben musste weitergehen - auch wenn es unglaublich schwer für meine Großeltern und mich war, die Situation zu händeln und den Alltag zu meistern.
Sie taten alles für mich und ich war ihnen unendlich dankbar dafür.

„Das mache ich gerne Opi, das weißt du doch. Ich will ja nicht, dass du dir beim Salatrausrupfen noch alle Knochen brichst und ich dich dann bei mir in der Klinik versorgen muss", lächelte ich ihn an.
„... und außerdem spare ich mir dann den Weg zum Supermarkt."

Wir lachten und mein Opa tätschelte mir die Schulter.

_

Nach getaner Arbeit saßen wir auf der Terrasse und aßen Kuchen.

„Wie geht es dir denn überhaupt Lynn? Was gibt es Neues bei dir? Ich habe in der Zeitung von dem Raubüberfall mit Geiselnahme und Schusswechsel erfahren. Stimmt es, dass ihr bei euch einige Verletzte behandelt?", fragte mich mein Großvater neugierig und geizte nicht, als er einen riesigen Klecks Sahne auf seinem Stück Erdbeerkuchen verteilte.

Typisch er, dachte ich grinsend.

„Ja, es ist wahr...", begann ich und erzählte ihm von der anstrengendsten Schicht meiner Karriere, meiner plötzlich Starre, dem verletzten Polizisten und ... ihm.

Dabei merkte ich plötzlich wieder, dass sich eine gewisse Nervosität in mir breit machte und meine Hände feucht wurden. Ich versuchte die Nässe möglichst unauffällig an meiner Hose abzureiben, was mir jedoch nicht sonderlich gut gelang.
Den Blicken meines Opas konnte ich dabei kaum standhalten.

Was hatte das alles zu bedeuten? Es konnte nur an meinem Blackout liegen. Der machte mich wirklich fertig.

„Kindchen, das scheint dich sehr nervös zu machen, sehe ich das richtig?", fragte mein Opa grinsend, nachdem er seinen letzten Bissen verputzt und sich mit der Serviette die Lippen abgetupft hatte.

Oh Gott, er kannte mich einfach zu gut.

Hitze stieg in mir auf.

„Ja, das kann schon sein ...",  lächelte ich ihn schief an und biss mir dann auf die Unterlippe.

„Es freut mich sehr, dass dir nach so langer Zeit mal wieder ein Junge zu gefallen scheint. Du hättest es sehr verdient, jemand Nettes an deiner Seite zu haben, nach allem was du durchmachen musstest", stieß er plötzlich hervor.

Was?

Hatte ich mich verhört?

Ich riss die Augen auf, meine Kinnlade klappte herunter und ich spürte das Blut in meinem Kopf pulsieren.

Das konnte er doch nicht ernst meinen!

Ich war doch nicht nervös, weil... na weil... ach keine Ahnung.

Nein!

Ich war nervös wegen meines Blackouts im OP.
Wegen des Überfalles, der Geiselnahme und der Schießerei.

Was dachte er sich nur?

Als ich mich nach gefühlten Stunden wieder gefangen hatte, versuchte ich die Sache schnellstmöglich aufzuklären.

„Nein nein Opa, das verstehst du völlig falsch! Völlig!
Die Ungewissheit ist es, die mich angespannt wirken lässt. Und dann auch noch mein Blackout.

Ich meine, ich kenne ... ihn ... doch auch gar nicht - noch nicht einmal seinen Namen. Ich habe bisher kein Wort mit ihm gewechselt.
Und wahrscheinlich ist er auch noch ein Krimineller, der Leute ausraubt.
Wer weiß was er alles auf dem Kerbholz hat...", verteidigte ich mich mit hochrotem Kopf und kam mir dabei absolut lächerlich vor.
Ich hatte das Gefühl, ich konnte mich kaum stoppen und die Wörter sprudelten nur so aus mir heraus.

„Ach Spatz. Deinem alten Opa kannst du so leicht nichts vormachen", unterbrach er mich seufzend.

Bevor ich mit erbostem Gesicht erneut protestieren konnte erstickte er meine Worte.

„Kriminelle sind auch nur Menschen.
Weißt du eigentlich, dass ich auch schon festgenommen wurde?"

Was?

Mir stockte der Atem.

Hatte ich mich schon wieder verhört?

****

Hier kommt Kapitel 5.
Ich hoffe es hat euch gefallen.

Was denkt ihr über Lynns Opa? Was hat er wohl angestellt?

Und wie beurteilt ihr seine Meinung über das Verhältnis zwischen seiner Enkelin und ihrem Patienten?

Ich würde mich sehr über Votes und Kommentare von euch freuen ☺️

-F.

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt