52

3.6K 122 22
                                    


Ein Blick zum Wecker verriet mir, dass es 5:24 war, als ich aufwachte.
Und das tat ich zum bestimmt fünften Mal in dieser unglaublich kurzen Nacht. Die Nacht, die komplett anders endete, als sie begonnen hatte.

Ich fuhr mir mit den Fingerspitzen durch die Haare und spürte, dass meine Ansätze an den Schläfen feucht waren.
Leise seufzte ich, bevor ich aus dem Fenster schaute.

Dicke Wolken hatten sich vor den bald untergehenden Vollmond geschoben, sodass das Schlafzimmer im Halbdunkeln lag.

Dann drehte ich meinen Kopf langsam wieder vom Fenster weg - auf die rechte Seite.
Dort sah ich sofort, dass ich nicht die Einzige war, die schlaflos ihre Gedanken wälzte.

Mein Gast lag kerzengerade auf dem Rücken und starrte an die Decke.


Nachdem ich ihm einige Stunden zuvor gesagt hatte, was mir das Internet über die Stadt, deren Koordinaten auf seiner Haut tätowiert waren, verraten hatte, hatte er kaum ein Wort mit mir gewechselt.
Seine großen Augen waren mit Fassungslosigkeit gefüllt, seine Haut wirkte blass und sein Brustkorb war in sich zusammengefallen, als er zu hören bekam, dass dieser Ort, der Ort der Edelsteine war.
Er hatte seine Hand von meiner Schulter genommen, sie in seinen Schoß fallen lassen und sie mit gesenktem Kopf angestarrt.
Ich hatte mich in diesem Moment genau wie einige Tage zuvor gefühlt, als ich seinen Schmerz in meiner eigenen Brust gespürt hatte, aber unfähig war, ihn ihm zu nehmen.

„Ich wusste es", hatte er dann irgendwann gehaucht, ohne mich dabei anzusehen. Ich hatte gespürt, wie mein Herz bei diesen Worten tief in meinen Körper hineinfiel. Es sank und sank und sank und konnte nicht gestoppt werden.

„Ich bin ein Verbrecher.
Du hast einen Verbrecher geküsst, einen Kriminellen, einen schlechten Menschen, Lynn", hatte er mit kaum hörbarer, brüchiger Stimme gewispert, während er sich zurück in die Kissen fallen ließ und von mir abwendete.

Mein Herz hatte sich so heftig zusammengezogen, dass ich kurz nach Luft schnappen musste, weil ich das Gefühl hatte, ich würde ersticken, wenn ich es nicht täte.

Er durfte mich nicht von ihm stoßen. Das durfte einfach nicht passieren.
Hatte ich ihm nicht oft genug bewiesen, dass ich auf seiner Seite war?

„Bitte, bitte sag so etwas nicht.
Ja, vielleicht bist du schuldig, vielleicht hast du fragwürdige Dinge getan, aber...", er unterbrach mich „Lass... lass mich bitte nachdenken. Ich brauche jetzt meine Ruhe."
Und damit hatte er die Bettdecke über seinen Oberkörper gezogen und dann keinen Mucks mehr von sich gegeben.
Ich hatte das so nicht akzeptieren und mich erklären wollen, ihm sagen wollen, dass er dieser Kerl von damals einfach nicht mehr war, dass ich ihn trotz allem so sehr mochte und unsere Küsse weniger als vermutlich alles andere in meinem Leben bereute, doch aus meinem geöffneten Mund war kein einziger Ton mehr herausgekommen, denn mein Hals hatte sich schlagartig wie zugeschnürt angefühlt.

Nach endlosen Minuten, die ich mit wild pochendem, schweren Herzen neben ihm gesessen und die aufkommende Kälte auf meiner Haut gespürt hatte, war ich dann irgendwann unter meine eigene Decke gekrochen und hatte mir nichts sehnlicher gewünscht, als einfach einzuschlafen und am nächsten Morgen festzustellen, dass der letzte Tag bloß ein bittersüßer Alptraum gewesen war.

Einige unruhige Stunden später hatte ich die Gewissheit, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist.



Um halb sechs morgens hatte mein Gast meinen Blick auf ihm bemerkt und flüsterte, ohne seine Augen von den Deckenbalken zu nehmen.
„Wie soll es jetzt nur weitergehen?"

Sofort unendlich erleichtert darüber, dass er wieder mit mir sprechen wollte, antwortete ich ihm leise auf seine Frage. „Ich denke wir müssen dort hin. Nach Philipsburg."

Bange Sekunden vergingen, in denen mich die Totenstille im Raum an meine Grenzen brachte. Was würde er nur sagen? Wollte er fahren? Wollte er mich dabei haben? Wollte er der Wahrheit ins Auge sehen und sich seiner dunklen Vergangenheit stellen? War er bereit dafür zu erfahren, was er getan hatte? Oder wollte er abhauen und für immer untertauchen?
Mein Herzrasen durchdrang die Stille und pulsierte mir bis in die Ohren.

„Es tut mir leid", wisperte mein Gast.
Er drehte seinen Kopf nun endlich in meine Richtung und ich erkannte, dass Tränen in seinen Augen standen.
Meinem rasenden Herzen wurde bei diesem Anblick nun auch noch ein schmerzender Stich verpasst.

Schon wieder so eine undeutbare Entschuldigung.
Was meinte er bloß damit?
Wollte er nun abhauen und versuchen seine Vergangenheit zu verdrängen? Oder war nun der Zeitpunkt gekommen, an dem er mich wirklich von sich stoßen und mir den Rücken zuwenden würde, weil er mich nicht weiter mit hineinziehen wollte?
Oder...

Doch meine Gedanken wurden von einer Geste unterbrochen, denn plötzlich streckte mein Patient seine Arme nach mir aus, nahm meinen kleinen Körper in sie und zog mich damit an seine feste Brust.

Oh! Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Meine angespannten Muskeln lockerten sich augenblicklich, als sie die Wärme seines Körpers spürten und ein Schauer überkam mich, als ich seinen Duft inhalierte, während er mit seinen Händen über meinen nackten Rückenbereich zwischen BH und Jogginghosenbund strich und jeglich schlechtes Gefühl in mir damit wegwischte.

„Es tut mir leid, dass ich gestern so kalt zu dir war Lynn. Das hast du nicht verdient", flüsterte er mir in meine Haare und ich spürte, wie mein Herz butterweich wurde. „Es hat mich einfach so sehr geschockt, dass ich nun Beweise dafür habe, dass ich wirklich der bin, der ich nie sein wollte.
Ich brauchte einfach etwas Zeit um das anzunehmen."

Meine Brust schmerzte nach diesen Worten so sehr, als ich ihm antwortete. „Ist schon okay" und ich meinte es genauso, wie ich es gesagt hatte.

Dann löste ich mich ein kleines Stück aus seinem Griff um ihm in die Augen sehen zu können.
„Mit dieser Umarmung hast du es mich quasi vergessen lassen", hauchte ich.

Sofort schloss er die Lücke zwischen uns mit seinen weichen Lippen und zog mich für einen langen Kuss wieder an sich heran.
Als sich unsere Münder zärtlich aneinander bewegten, stolperte mein Herz. Ich war so erleichtert über diese Wendung, dass ich kaum hätte in Worte fassen können wie sehr. Der Kuss hatte sich angefühlt wie eine Erlösung, wie eine Entschädigung für diese unruhige Nacht. Als ich hörte, warum er am Abend zuvor so reagiert hatte, war ich sehr froh darüber, dass er es mir erklärt und sich dafür entschuldigt hatte, anstatt mich einfach auszuschließen.

Nachdem er mir zugeflüstert hatte, ich sollte mich umdrehen, umschloss er meinen Rücken mit seinem Oberkörper und hielt mich weiterhin fest an sich gepresst.
„Du hast recht. Wir müssen nach Philipsburg. Das ist unsere einzige Chance die Wahrheit herauszufinden. Egal wie furchtbar sie sein wird."

Entschlossen nickte ich. „Ja. Und egal was sein wird, ich bin an deiner Seite."
Ich spürte sein Lächeln in meinem Nacken.
„Und das macht mich unfassbar glücklich Lynn."

-

8:12 Uhr zeigte der Wecker an, als ich zum sechsten Mal aufwachte, dieses Mal jedoch mit einem guten Gefühl in mir.

Kurz darauf standen mein Patient und ich auf, machten uns fertig und trafen uns einige Zeit später am Frühstückstisch wieder.

„Lagebesprechung?", fragte er, bevor er nach seiner Teetasse griff.
„Lagebesprechung!", bestätigte ich ihm und fuhr dann mit meinem Plan fort, den ich in den vergangenen Stunden geschmiedet hatte.

****

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt