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Sekundenlang musterte er mich mit versteinerter Miene und schien nicht fähig zu sein in irgendeiner Art und Weise auf meine Worte zu reagieren.

Hatte er mich etwa nicht verstanden?

„Komm, steh auf, wir dürfen keine Zeit verlieren!

Stell dir vor mein Nachbar, der wegen seines Autos in meiner Wohnung war, hat diesen Beitrag gesehen und dich erkannt. Dann wird die Polizei in wenigen Minuten hier die Tür eintreten!", rief ich, hielt ihn dabei an den Schultern fest und sah ihn eindringlich an.

Doch er wirkte nicht, als wäre er aufnahmefähig.

Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf, zog eine große Tasche unter meinem Bett hervor und begann, verschiedenste Sachen wahllos hineinzustopfen, ehe ich ins Bad rannte und dort weitermachte.

Zahnbürste, Zahnpasta, Haargummis, Deo, Shampoo...
Aufgehetzt wuselte ich umher und griff, was ich für wichtig erachtete.

Und dann bemerkte ich, wie er auf einmal im Türrahmen stand - in meinem rosa Flauschbademantel, der offen an seinen Seiten herunterhing und mir somit die freie Sicht auf seinen muskulösen Oberkörper gab.

Obwohl ich mit meinen Gedanken in diesem Moment eigentlich ganz wo anders sein sollte - da ich mich gerade auf eine überstürzte Flucht vor der Polizei vorbereitete - hielt ich kurz inne und ließ meine Augen über seinen Wahnsinnskörper wandern.

So hatte ich ihn noch nie angesehen.

Seine zahlreichen Tattoos auf Brustkorb und Bauch stachen deutlich hervor und bewegten sich mit jedem nervösen Atemzug von ihm heftig auf und ab.

Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und ich nahm wahr, wie sehr er unter Strom stand, als er sie immer wieder an- und entspannte.
Die ausgeprägten Sehnen hoben sich dabei mal etwas mehr und mal wieder etwas weniger stark von seinen Armmuskeln ab.

Als ich ihm in die Augen blickte, konnte ich bereits ahnen, was er von mir wollte und warum ich ihn in diesem Moment vor mir stehen sah.

Seine Haare standen ihm in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab, sein Blick wirkte glasig und müde.
So fertig hatte ich ihn seit der Nacht auf dem Parkplatz nicht mehr erlebt.
Was hätte ich nur darum geben, seine schönen Augen in dieser Sekunde wieder leuchten zu sehen...

Langsam ging mein Gast einige Schritte auf mich zu und ich ließ die Tasche in meinen Händen zu Boden gleiten, ehe ich mich wieder aufrichtete.

Als uns nur noch Zentimeter voneinander trennten, streckte er seine Arme nach mir aus, nahm meine Hände vorsichtig in seine und streichelte mir mit den Daumen behutsam über meine Fingerknöchel.

Zögerlich ließ ich meinen Blick sinken und musterte meine Hände in seinen.

Dieses Gefühl der Berührung, diese Wärme, dieser Hautkontakt... einfach nur wunderschön - doch ich konnte nichts davon genießen.
Ich wusste, dass all das in den nächsten Minuten für immer vorbei sein würde.

Denn er würde gehen. Ich spürte es.

Schweren Herzens sah ich wieder auf und hielt mit meinen Augen seine fest. Der Schmerz in ihnen, den ich sofort erkannte, ließ schlagartig Übelkeit in mir aufsteigen.

Wie konnte es nur soweit gekommen sein?...

„Bitte sag es nicht...", flehte ich beinah aus trockener Kehle und spürte, wie es mir immer schwerer fiel, seinem Blick standzuhalten.

„Doch. Ich werde es sagen. Ich muss es sagen...

Lynn, ich kann nicht mehr. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Sie suchen mich und sie werden mich finden - wo auch immer ich sein mag.
Doch noch viel furchtbarer als hinter Gittern zu sitzen wäre für mich, wenn ich dich in alles mit hineinziehe. Und ich habe dir bereits schon so viel zugemutet. Es würde alles noch schlimmer werden. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich dir Schaden zufüge.

Ich werde jetzt zum nächsten Polizeirevier gehen, mich stellen und für meine Taten gerade stehen, wie auch immer sie ausgesehen haben.

Wenn sie mich einsperren hoffe ich aber von ganzem Herzen, dass du ... mich irgendwann mal besuchen kommst."

Wie eingefroren stand ich da und konnte nicht fassen, was gerade passiert war.
Seine Entscheidung stand. Er würde gehen - egal was ich sagte, egal was ich tat.

„Und ich werde jeden gottverdammten Tag darauf warten..."

Langsam beugte er sich vor, umfasste meine Wangen und sah mich mit seinen großen grün-karamellfarbenen Augen an und in diesem Moment  hatte ich das Gefühl, er hätte mir bis in meine Seele geschaut.

Dann küsste er mich auf die Stirn, wandte sich ab, verschwand mit Klamotten in den Händen im Schlafzimmer und kam kurz darauf voll bekleidet wieder heraus.

Wie gelähmt ließ ich es geschehen, denn ich konnte mich nicht bewegen.

Er nahm sich die Medikamente vom Wohnzimmertisch, steckte sie in die Tasche seines Hoodies und sah mich noch einmal an.

„Vielen vielen Dank für alles, was du für mich getan hast. Sobald ich in der Lage dazu bin, werde ich mich erkenntlich zeigen.
Ich wünsche mir, dass wir uns bald wieder sehen.

Ich ... werde dich vermissen."

Dann schloss er für einige Sekunden seine Augen, schuckte hart, drehte sich um und umfasste die Klinke der Haustür.

Doch dann stockte er.

Schwer atmend stand er vor dem Holzrahmen und rührte sich nicht.

Mein Herz raste wie verrückt und ich spürte, wie meine Hände nass wurden.

Hatte er es sich anders überlegt? Wollte er nun doch bleiben?


Im nächsten Moment wurde ich jedoch eines Besseren belehrt, denn er drückte die Klinke, öffnete die Tür und schritt hinaus.

Mein Kopf brummte und mein Magen verkrampfte sich.


Er war gegangen. Er war weg. Und er würde nicht zurückkommen, denn er würde verhaftet werden und die nächsten Jahre im Gefängnis sitzen.
Für was auch immer...

Als die Tür ins Schloss fiel und knackte, knackte auch mein Herz...

💔

*****

Hallo ihr Lieben ☺️,

Kapitel 28 ist schon etwas traurig oder? 😔

Fühlt ihr mit Lynn? Wird sie ihn wohl wirklich besuchen, nachdem er sich hat festnehmen lassen?

Ich hoffe ihr mochtet das Kapitel trotz des unschönen Endes...

Morgen oder übermorgen wird es bereits weitergehen.

Bis dann,

Eure F. ☺️

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt