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„Mist", flüsterte ich und kniete mich hastig zu ihm hinunter.
Mittlerweile war er so kraftlos, dass er bereits mit dem Rücken am Stamm heruntergeglitten war und am Fuß des Baumes kauerte.

Um den Schmerz zu unterdrücken hatte er die Augen fest zusammengekniffen und presste seine Kiefer hart aufeinander.

Der Regen prasselte immer wilder auf uns herab und ich spürte meine Bluse an meiner Haut kleben. Unsere Haare waren mittlerweile pitschnass und ich sah, wie ein Wassertropfen nach dem anderen auf seinem Gesicht landete und einige davon dann an seinem Hals hinunterliefen.

Was sollte ich jetzt nur tun?

Er musste so schnell wie möglich von hier weg. Wenn er sich mit der durchnässten Kleidung auch noch erkälten würde, wäre das fatal.
Doch ich konnte ihn nicht in die Klinik zurückbringen. Die Männer würden ihn früher oder später dort finden. Das konnte ich nicht zulassen.

Nervös biss ich mir auf die Lippe und kämpfte innerlich mit mir. Die Zeit saß uns im Nacken.


Was ich dann tat, konnte ich selbst kaum glauben.

Vor ihm auf dem nassen Boden hockend streckte ich meine Hand aus und legte sie ihm auf die bereits kalte Schulter.
Er spürte die Berührung sofort, öffnete gequält seine Augen und sah mich an.

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bevor ich Luft holen konnte um zu sprechen.

„Komm! Ich bringe dich von hier weg", flüsterte ich, stand auf und hielt ihm meine Hand hin um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Doch das gestaltete sich schwieriger als ich gedacht hatte.

Obwohl er all seine Kräfte zu mobilisieren schien, schaffte er es nicht, aus eigenem Antrieb heraus aufzustehen. Auch wenn er trainiert aussah, hatte sein Körper in den letzten Tagen viel durchmachen müssen. Mal abgesehen davon, war es unglaublich schwer, sich mit einer solch großen, tiefen Verletzung am Unterbauch, überhaupt zu bewegen.

Ich musste ihm helfen, sonst würde er nicht auf die Beine kommen.

„Warte!", hauchte ich.

Wieder ging ich vor ihm in die Hocke und war nun auf Augenhöhe mit ihm.
Langsam beugte ich mich vor und näherte mich seinem Oberkörper.
Dann begann ich, meine Arme an seiner Taille vorbei, hin zu seinem Rücken zu schlingen, bis ich seine Brust an meiner fühlte.

Sein Herz raste. Und meins auch.

Obwohl ich gerade eigentlich etwas ganz anderes im Sinn haben sollte, durchfuhr mich plötzlich wieder dieses bekannte Gefühl.
Das Gefühl das ich bekam, wenn ich ihn ansah, und das sich verstärkte, wenn ich ihm körperlich näher kam. Ich musste es einfach ausblenden.

Mit aller Kraft versuchte ich ihn unter seinen Armen zu fassen und nach oben zu stemmen, ohne selbst das Gleichgewicht zu verlieren.

Sein Kopf lag in meiner Halsbeuge und unsere Schläfen berührten sich. Ich spürte, dass er seinen Atem anhielt und jede Faser seines Körpers anspannte, um zum Stehen zu kommen.
Auch ich verkrampfte jeden Muskel in mir.

„Ein bisschen mehr Kraft noch", keuchte ich außer Atem und versuchte, uns gemeinsam hochzuhieven.

Nachdem wir beide plötzlich festen Stand unter den Füßen bekamen und ich ihn mit dem Rücken am Baumstamm ein Stückchen nach oben drücken konnte, schien es tatsächlich zu funktionieren und wir bewegten uns langsam hinauf.

Er stöhnte schmerzerfüllt in meine Halsbeuge und krallte sich an meinem Nacken fest.
Ich wünschte mir, ich hätte ihm seine Qualen abnehmen, oder sie zumindest lindern können. Seine Laute versetzten mir einen Stich.

Ich presste ihn noch einmal mit meinem Körper an den Baum und drückte den Unbekannten mit aller Kraft an ihm hoch, bis ich spürte, dass wir nicht mehr auf Augenhöhe waren und wahrnahm, wie er auf einmal stand.

Endlich! Wir hatten es geschafft.
Außer Atem schloss ich meine Augen und schnappte nach Luft. Unsere Kleidung war vollständig durchnässt und ich fühlte mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen.

Mein Herz klopfte wild und ich war völlig erschöpft. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, ob dieses Gefühl nur durch die Anstrengung auftrat, oder vielleicht auch durch die Tatsache, dass er und ich uns fest im Arm hielten, an einen Baum gepresst waren, unsere Kleidung komplett durchnässt war und ich sein schnell pochendes Herz an meiner Brust, und seinen Atem an meinem Hals spüren konnte.

Oh Gott!

Als mir bewusst wurde, was gerade passierte, löste ich meine Arme von seinem Rücken und brachte ein paar Zentimeter zwischen unsere Körper.
Wir sahen uns in die Augen und wieder konnte ich nur daran denken, wie unglaublich schön dieser grün-karamellfarbene Ton war, der seine Pupillen umgab.

Ehe es merkwürdig zwischen und werden konnte, kam mir wieder in den Sinn, was ich eigentlich vor hatte.

„Ok ... geschafft! Lass uns ... in mein Auto setzen", gab ich von mir.

Er nickte stumm.

Ich entfernte mich von ihm, schloss mein Auto auf und öffnete die Beifahrertür, ehe ich zurückging, ihn stützend zum Auto begleitete und ihm half, sich hinzusetzen.
Auch das war alles andere als leicht, doch wir schafften es, ohne ihm weitere, schlimme Schmerzen zuzufügen.

Dann ließ ich mich auf den Fahrersitz plumpsen, schlug meine Tür zu und atmete langsam aus.
Auch im Innenraum war mein Auto mittlerweile nass geworden.
Die Luft wurde schlagartig dick und die Fensterscheiben beschlugen.

Tja, und jetzt? Wie sollte es weitergehen?

Ich musste ihm von meinem Plan erzählen und ihm sagen, was ich mir überlegt hatte.
Egal was der davon hielt.

Als ich mich zu ihm drehte sah ich, dass er die Augen geschlossen hatte, sich eine Hand an den Bauch drückte und seinen Kopf gegen die Stütze presste.
Es ging ihm schlecht. Die körperliche Anstrengung und das Wetter hatten ihm ordentlich zugesetzt.
Sein nasses Haar lockte sich mittlerweile leicht und sein Hoodie klebte an seiner Brust. Von seiner Lederjacke tropfte es unaufhörlich und auch sein Gesicht und seine Hände waren feucht.

Er musste dringend seine Klamotten loswerden und sich aufwärmen.

„Hey", flüsterte ich und berührte ihn vorsichtig an der Schulter.
Er öffnete die Augen und drehte seinen Kopf zögerlich in meine Richtung ohne ihn von der Stütze zu heben. Er wirkte einfach nur erschöpft.

„Ich habe mir etwas überlegt.
Du kannst nicht zurück in die Klinik, aber du brauchst regelmäßig Medikamente und jemanden, der nach dir sieht und dich behandelt. Sonst wird es dir von Tag zu Tag schlechter gehen. Das ... das kann ich nicht zulassen. Egal ob es dir gefällt oder nicht, aber ..."

Nervös und plötzlich hellwach ließ er seine Augen zwischen meinen hin und herspringen, als er darauf wartete, dass ich meinen Satz beendete.

„Ich ... ich werde dich mit zu mir nach Hause nehmen."


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Hey ihr 😊

hier kommt ein weiteres Kapitel, das euch hoffentlich genauso gut gefällt wie die anderen.

Habt ihr damit gerechnet, was Lynn vor hat?
Und wie wird der Unbekannte auf ihren Vorschlag reagieren?

Als kleine Überraschung anlässlich der 450 reads und 100 votes (wow, ich glaube es kaum ☺️) habe ich mir überlegt, heute gleich zwei Kapitel zu veröffentlichen.
Ich hoffe ihr freut euch darüber 😊.

Vielen Dank an alle, die gelesen, kommentiert und gevotet haben. Das freut und motiviert mich total ☺️.

Also ... hier geht's weiter (wenn ihr mögt...)

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt