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Gänsehaut zog sich über meinen kompletten Körper und ließ ihn erschaudern.

Ich schloss schwer atmend die Augen.

Wenn wir wirklich etwas Neues, Belastendes über meinen Patienten herausfinden würden, wäre es vorbei. Dann würde er sich stellen und in Kauf nehmen, dass die korrupten Beamten ihn härter bestrafen würden, als es vermutlich nötig gewesen wäre. Oder noch schlimmer: sie würden ihn an die Gang ausliefern und ihn dort seinem Schicksal überlassen. Was auch immer das bedeuten würde.

Meine Gedanken überschlugen sich und obwohl ich das heftige Wirrwarr in meinem Kopf stoppen wollte, schien ich nicht in der Lage dazu zu sein.

Fest stand, dass er nicht länger so weitermachen konnte wie bisher, denn die Situation belastete ihn bis ins Unerträgliche.
Würden wir etwas Belastendes herausfinden, würde ich ihn verlieren - das stand nun nicht mehr zur Debatte.

Doch ich hatte keine Wahl, ich musste ihm mein Wort geben. Egal was ich machen oder sagen würde, ich konnte ihn an diesem Punkt nicht mehr stoppen und das war mir glasklar.

„Okay", wisperte ich und senkte meinen Kopf. „Wenn es das ist was du willst, soll es so sein."

-

Einige Stunden später erreichten wir unseren letzten Zielort. Wir waren die übrigen Meter zu Fuß dort hingegangen und hatten Sues Auto nach kurzer Fahrt am Rande des Gebirges geparkt, das unser Ziel umgab.

Nach wenigen Minuten bergaufwärts, blieben wir schnaufend und kurzatmig auf der höchsten Stelle des riesigen, langgezogenen Hügels stehen und blickten auf ein kleines, fast hexenartiges Häuschen, das von vielen Bäumen umsäumt war.

Obwohl es sehr einsam und verlassen gelegen war, schien es nicht angsteinflößend zu sein, sondern wirkte gemütlich und einladend auf mich.
Es war zwar größer und von der Bauart her viel massiver als unsere Waldhütte, doch ich konnte viele Parallelen zwischen den beiden Unterkünften erkennen.

Mit neugierigem und gleichermaßen angespanntem Blick beäugte ich meinen Patienten und war mir sicher, dass er auch am vierten und letzten Zielort keinen blassen Schimmer hatte, weshalb er dessen Koordinaten unter seine Haut stechen ließ.


Zögerlich machten wir ein paar Schritte auf das Haus zu und näherten uns dem Eingang.

Nach ein paar Blicken durch die Fenster schien uns klar zu werden, dass hier niemand wohnte.
Die wenigen Möbel im Inneren waren mit Laken abgedeckt und die meisten Vorhänge zugezogen. Auch der kleine Garten sah verwildert aus.

Mit großen Schritten stapften wir durch die hohen Gräser und das Unkraut und kamen auf der Hinterseite des Hauses zum Stehen.

Dort gab es einen Eingang, der in den Keller führte.

Zielsicher bewegte sich mein Patient auf einen alten Blumentopf zu, der neben den Treppenstufen stand und hob ihn hoch. Darunter befand sich ein Schlüssel, der in der Herbstsonne reflektierte.

Ich schmunzelte.
Schon wieder hatte er den richtigen Impuls.

Langsam schritten wir die Stufen hinunter und schlossen die schwere Eisentür auf, hinter der sich ein kleiner Keller verbarg.

Hier war es kühl, dunkel und Spinnweben hingen in jeder Ecke, in die mein Blick fiel.

Mit zögerlichen Schritten bewegten wir uns ins Innere und inspizieren alles um uns herum. So, wie wir es getan hatten, als wir zum ersten Mal die Lagerhalle betraten.

Am Ende des Flures öffnete mein Patient dann eine Tür, die in den Wohnbereich des kleinen Hauses führte. Dahinter ging es ein paar Stufen nach oben und wir wurden dort von einer gemütlichen Einrichtung empfangen. Alles sah freundlich, geschmackvoll und liebevoll dekoriert aus. Sofort fühlte ich mich wohl in diesen vier Wänden.

„Wie schön", hauchte ich, während ich mit den Augen über die Gegenstände fuhr, von denen mein Patient kurz zuvor die Laken gezogen hatte.

Er wirkte wie getrieben und bewegte sich hastig durch die kleinen Räume.

Als die gesamte Einrichtung von den Abdeckungen befreit war, ließ er sich schwer seufzend auf das Sofa fallen.

Er war kreidebleich. Sein glasiger Blick stierte ins Leere.

Was war mit ihm?

Nachdenklich musterte ich meinen Patienten, während ich stumm auf der Stelle stand und unfähig war, mich zu rühren.

Ein kalter Schauer erwischte mich.

Hatte er etwas entdeckt?

Sofort überkam mich ein Schwall negativer Emotionen.

War es nun etwa soweit? Hatte er Beweise für seine Schuld gefunden und würde sich nun stellen?

Übelkeit kroch meinen Körper hinauf und verursachte Schmerzen in meiner Magengrube.

Ich hatte mich so sehr vor diesem Moment gefürchtet und gehofft, er würde an uns vorbeiziehen. Doch anscheinend hatte ich mich getäuscht und er war schneller gekommen, als ich es hätte vermuten können.

Mit einem riesigen Kloß im Hals presste ich meine Lippen zusammen und schloss die Augen.

Das war er also: Der Anfang vom Ende.

„Lynn", sagte mein Patient mit beinah krächzender Stimme und bewegte mich damit dazu, meine schweren Augenlider wieder zu öffnen und ihn nervös anzusehen.

Seine Gesichtsfarbe glich der, der weißen Tapete hinter ihm.

Mit einer Geste forderte er mich auf, sich neben ihn auf das dunkelgrüne Sofa zu setzen.

Mit zögerlichen Schritten auf meinen wackeligen Beinen kam ich seiner Bitte nach, obwohl sich alles in mir dagegen wehrte. Doch ich hatte ihm versprochen, seinen Wunsch zu respektieren und mich ihm nicht in den Weg zu stellen.

Mein Herz schlug wild in meiner Brust, als ich mich in das weiche Leder sinken ließ und es unter meinen Oberschenkeln spürte.
Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich Zweifel daran bekam, ob ich überhaupt hören können würde, was mein Patient mir zu sagen hatte.

Hektisch wischte ich mir mit dem Finger die Schweißperlen von der Oberlippe, die sich dort in Sekundenschnelle gebildet haben mussten.

Ich war so in Gedanken, dass ich erst einen Moment später wahrnahm, dass mein Patient anscheinend meine Hand in seine genommen hatte und mich ansah.

Sein Blick durchbohrte mich.

Schwer schluckend ertrug ich ihn.

In mir standen alle Zeichen auf Explosion und ich wollte nichts mehr, als dass er mich endlich von den Qualen erlöste und mir sagte, was er gefunden hatte, dass ihn jetzt hinter Gitter brachte.
Auch, wenn es mir den Boden unter den Füßen wegreißen würde.

In seiner feuchten Hand um meine herum, spannten sich seine Muskeln an und übten Druck aus. Auch er war merklich angespannt.

Er schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus, bevor er sie wieder öffnete und mich genauso durchdringend ansah wie zuvor.

Dann setzte er an.

„Lynn. Ich... ich kann mich erinnern."

😳

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Mein Buch wird heute ein Jahr alt, kaum zu glauben. Happy Birthday 🥳 🎉 🎈

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt