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Der Dunkelblonde raste davon, ohne uns auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

Mein Patient und ich starrten seinem BMW hinterher, bis er nicht mehr zu erkennen war, bevor ich dann einen Blick zu ihm wagte, der mir sofort die Feuchtigkeit in die Augen trieb.

Connor hatte meinen Patienten mit seinen Worten zerstört.

Seine Wangen wirkten eingefallen, die Schultern hatte er nach vorne gezogen, seine Mundwinkel hingen und seine Augen... sie wirkten so trüb wie damals im Krankenhaus, als er realisierte, dass er ein „Niemand" war.

Mich überrannte ein Übelkeitsgefühl, doch anscheinend nicht nur mich, denn mein Patient sprintete plötzlich zum Feld auf der gegenüberliegenden Straßenseite und musste sich übergeben.
Minutenlang brach er sich die Seele aus dem Leib.
Der psychische Stress hatte seinen Körper binnen Sekunden angegriffen.

Als Krankenschwester hatte ich schon viele Menschen in diesem Zustand gesehen, daher machte mir der Anblick ansich nichts aus, doch weil es sich um ihn handelte, musste ich mich heftig zusammenreißen, meinen Mageninhalt nicht ebenfalls ins Gras zu spucken, denn ihn leiden zu sehen, war für mich unerträglich.

Ich atmete einige Male tief ein und wieder aus und versuchte mich zu entspannen, doch ich konnte nichts dagegen tun, dass sich die Situation immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge abspielte.

Ich hatte Connor nicht gleich erkannt.
Seine Haare waren viel länger als auf dem Bild im Internet und sein Gesicht wirkte schmaler. Auch von Bartstoppeln war nichts mehr zu sehen. Das Foto im Netz schien also schon etwas älter gewesen zu sein.
Nachdem er die Sonnenbrille abgenommen hatte und ich seine Augen sehen konnte, wusste ich jedoch sofort wer er war, als ich in das Grün-Karamell blicken konnte.

Er hatte davon geredet, dass mein Gast viele schlechte Dinge getan und nicht an die Konsequenzen gedacht hatte.
Auch als Lügner wurde er von ihm beschimpft. Connor schien nicht zu glauben, dass er wirklich sein Gedächtnis verloren hatte.
Mich bezeichnete er als „armes Mädel", das quasi auf seine Masche hereingefallen war.

Aber das stimmte doch alles nicht! Das entsprach nicht der Wahrheit und das wusste ich. Er hatte definitiv eine Amnesie und keinen blassen Schimmer wer er war. Davon war ich immer noch überzeugt.

Was ich mich fragte war nur: Gab es etwa vor mir ein anderes Mädchen, das er belogen und in etwas Illegales mit hineingezogen hatte?
Aus Connors Mund klang es nämlich genau so. Ich hatte das Gefühl, er wollte mich warnen.
Irgendwie beschlich mich ein absolut ungutes Bauchgefühl.

Klar war jetzt zumindest, dass mein Patient kein unbeschriebenes Blatt, sondern wirklich ein Krimineller war und somit seine schlimmste Befürchtung wahr geworden ist.

Ich hatte keinen Zweifel an den Aussagen des Radiomoderators, denn er hätte keinen Grund gehabt zu lügen. Auch verpfiffen hatte er meinen Patienten nicht, obwohl er über alles Bescheid zu wissen schien. Über seine Taten und sein Leben. Das Leben seines kleinen Bruders.

Die Beteiligung am Überfall schien also auch keine Einzeltat gewesen zu sein. Vermutlich hatte er eine lange Vorgeschichte.

Bei dem Gedanken daran schloss ich die Augen und legte mir die Hand auf den Bauch.

Mein Magen schmerzte.

Was um Himmels Willen hatte er bloß verbrochen?

-

Eine Stunde später kamen wir an unserem dritten Ziel an.

Nachdem mein Patient sich von seinen körperlichen Beschwerden einigermaßen erholt hatte, hatten wir uns wortlos ins Auto gesetzt und Löcher in unsere Umgebung gestarrt, bis er irgendwann angefangen hatte zu reden.

Er hatte mir geschworen, nichts von alledem zu wissen was sein Bruder ihm vorgeworfen hatte... und ich glaubte ihm.
Er erzählte mir wie schlecht er sich fühlte und wie sehr die Situation ihn belastete. Die Ungewissheit schien ihn förmlich aufzufressen.
Doch den langen Monolog hätte er sich sparen können, weil ich ihm angesehen hatte, wie es ihm ging, ohne ein Wort davon hören zu müssen.

Als ich ihm zum wiederholten Male versichert hatte, an seiner Seite bleiben zu wollen, ließ er sich nach etwas Zögern darauf ein, noch am selben Tag mit mir zum dritten Koordinatenort zu fahren.

Ich wollte so schnell wie möglich die komplette Aufklärung haben und keine Zeit mehr verlieren, der vollen Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Stillschweigend machten wir uns auf den Weg und kamen nach etwa zehn Minuten Fahrt dort an.

An einem Friedhof.


Bevor wir aus dem Auto stiegen, setzten wir uns die Mützen, die wir während der Fahrt abgenommen hatten, wieder auf, um unsere Identitäten zumindest in geringem Maße zu verschleiern.

„Wonach sollen wir suchen?", fragte ich meinen Gast, als wir das Gelände betreten hatten.

Er zuckte nur wortlos mit den Schultern. Er schien an diesem Tag einfach nicht mehr in der Lage zu sein, sich auf irgendetwas einlassen zu können. Das konnte ich nachvollziehen, doch wir mussten unsere Mission zu Ende bringen um endlich die Klarheit zu bekommen, die Connor uns verwehrt hatte.

Glücklicherweise schien es auf dem Friedhof nicht allzu viele Gräber zu geben und wir schritten Reihe für Reihe ab.

Mit wachsamen Augen las ich jeden Namen auf den Grabsteinen, während mein Patient mit gesenktem Kopf langsam hinter mir her trottete und dabei komplett abwesend wirkte.

Miller, Johnson, Davis, Abdullah, Woods, Redford... nichts kam mir passend vor.

Langsam schlenderte ich weiter, bis ich an einem Grab ankam, auf dem ich einen mir sehr bekannten Nachnamen las.

Fox.

Darunter drei Vornamen: Jade, Henry und Katherine.

Ein kalter Schauer huschte mir über den Rücken.

Seine Familie. Die Familie Fox.

Hektisch winkte ich meinen Patienten zu mir und gemeinsam beäugten wir den Stein.


Jade und Henry waren schon vor acht- beziehungsweise neunzehn Jahren gestorben, Katherine erst vor einem - sie wurde 82 Jahre alt, Jade und Henry nicht mal 40.

Mit großen, aber immer noch trüben, müden Augen blickte mein Patient auf die Gravuren und biss dabei nervös auf seiner Lippe herum. Krampfhaft versuchte er, sich an die Personen zu erinnern, zu denen die Namen gehörten.

Stillschweigend musterte ich seine Gesichtszüge aus dem Augenwinkel und konnte wieder einmal nur darüber spekulieren, was in ihm vorgehen könnte.

„Katherine Fox", murmelte er nach einer Weile. „Sie war...", er hielt inne und sah auf den Boden, während ich die Luft anhielt.

Wusste er etwa wer sie war? Konnte er sich an sie erinnern?

Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Sie... sie hat mir viel bedeutet. Das kann ich spüren."
Er fasste sich an sein Herz und atmete flach.

Mist....
Mein Herz sank. Tiefer und tiefer.

Hart schluckte ich bei dem Anblick seines Körpers, denn ich wusste genau wie es sich anfühlte, geliebte Menschen - Familienmitglieder - verloren zu haben.

In diesem Moment konnte ich nicht anders ihn einfach in den Arm zu nehmen und fest an mich zu drücken.

Zu erst stand er nur stocksteif da und ließ meine Geste regungslos über sich ergehen, doch ich wendete mich nicht von ihm ab, sondern gab ihm Zeit und irgendwann spürte ich, dass sich seine verspannten Muskeln lockerten und er dann ebenfalls die Arme um mich schlang, bevor er seinen Kopf in meiner Halsbeuge vergrub.

Sein fester Brustkorb hob und senkte sich an meinem, während ich ihm mit der Hand über den Rücken fuhr und versuchte, den dicken Kloß in meinem Hals zu ignorieren.

😢

****

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt