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Das laute Pfeifen des kleinen Teekessels ertönte und ich sprang vom Sessel auf, um zwei Tassen aus dem Schrank zu holen und sie mit heißem Wasser zu füllen.

Mein Gast hatte mir zugestimmt. Er wollte die Geschichte meiner Eltern hören und ich war endlich auch bereit sie ihm zu erzählen.

Ich wusste, es würde mit Sicherheit nicht leicht für mich, meine Vergangenheit noch einmal detailgetreu aufzurollen und den ganzen Schmerz nachzuempfinden, doch ich wollte mich ihm öffnen, so wie er sich mir gegenüber geöffnet hatte. Ich wollte ihm erklären, was es mit diesem Ort auf sich hatte und warum ich mich hier so fühlte, wie ich mich fühlte.
Ich vertraute ihm und spürte Sicherheit in seiner Nähe. Er hatte es verdient alles zu erfahren.
Und zwar wirklich alles.


Nachdem ich die Teetassen verteilt hatte, hatte sich jeder von uns in einen der zwei Sessel gesetzt und in Wolldecken eingekuschelt.

Obwohl es nicht wirklich kalt war, schien es im Wald und in der Hütte immer noch etwas frischer zu sein als sonst draußen.

Als wir unsere ersten Schlücke Tee genommen hatten und ich in die erwartungsvollen Augen meines Gegenübers blickte, nahm ich einen tiefen Luftzug und setzte an.

„Ok, ich bin bereit", sagte ich ihm und bekam ein Lächeln zurück.

„Es ... passierte als ich sechs Jahre alt war.
Meine Eltern liebten es, hier im Wald wandern zu gehen. Meist taten sie es an einem Wochenende in jedem Monat. Ich schlief dann immer bei meinen Großeltern."

Mein Patient nickte und starrte auf meine Lippen. Es schien mir, als würde er mir helfen wollen, die Wörter aus meinem Mund zu holen, die mir doch schwerer über die Lippen kamen, als ich es gehofft hatte.

„Und kurz nach meinem sechsten Geburtstag wollte ich dann zum ersten Mal mitkommen. Meine Eltern hatten immer davon geschwärmt, wie toll das Wandern hier sei und wie herrlich die Aussicht von den Spitzen der Berge. Das wollte ich unbedingt auch einmal mit eigenen Augen sehen.
Ich ... habe mich so sehr gefreut, dass ich endlich dabei sein durfte.

Die Wanderung gefiel mir anfangs total gut und ich verstand sofort, wovon meine Eltern seit Jahren geredet hatten. Die Natur an diesem Ort war einfach unbeschreiblich - und ist es bis heute."

Mein Patient schenke mir ein liebevolles und zustimmendes Lächeln.

„Doch so schön wie die Aussicht auch war, musste ich mir damals eingestehen, dass das lange Wandern doch noch zu anstrengend für mein sechsjähriges Ich gewesen ist - und das, obwohl meine Eltern schon eine sehr einfache Route herausgesucht hatten.

Tja ... jedenfalls: Als wir Abends zur Hütte zurückkamen, war ich total platt und hatte auch noch Schmerzen im Fuß, da ich auf dem Rückweg umgeknickt war. Meine Eltern hatten bereits meinen Opa angerufen und ihm gesagt, er solle mich am nächsten Morgen abholen. Sie wollten die zweite Strecke dann allein gehen, bevor sie zu mir nach Hause zurückfuhren.

Ich war froh darüber nicht mehr mit zu müssen, weil mein Fuß ganz schön pochte.

Nachdem sie mich an dem Abend hier in der Hütte ins Bett gebracht hatten, legten sie sich selbst hin und schienen auch ziemlich schnell eingeschlafen zu sein - im Gegensatz zu mir.
Obwohl ich durch die anstrengende Bewegung an der frischen Luft extrem müde war, konnte ich meine Augen einfach nicht schließen. Ich hatte mich hin- und hergewälzt, doch das brachte alles nichts.

Irgendwann bekam ich großen Hunger und lief in die Küche. Im Kühlschrank sah ich dann einen knallroten Apfel, den ich unbedingt noch essen wollte.
Weil mir bereits einige Milchzähne rausgefallen waren und andere stark wackelten, beschloss ich, den Apfel in Stücke zu schneiden.

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt