Kapitel 3

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Ich komme zu Hause an. Meine Eltern sitzen beide im Wohnzimmer. Der Junkie scheint wohl wieder draußen herumzulungern - endlich. So muss ich mir seine Anwesenheit nicht antun. Ich bin sofort entspannter, begrüße beide und gehe dann in mein Zimmer, in dem ich Perwin an meinem Schreibtisch sehe. Sie lernt für ihre Abiturprüfungen und wie ich sehe, geht sie gerade ihre Biologiethemen durch. Mein Lieblingsfach. Wie sehr ich es geliebt habe und auch die Zeit im Unterricht. Manchmal wünsche ich sie mir zurück, auch wenn ich all die Freunde jetzt verachte, die ich damals hatte. Ich war glücklich. Ich hatte Abwechslung im Leben. "Nimm mein Notizbuch für die Nervengifte. Ich habe noch all meine Aufzeichnungen." Ich hocke mich zum weißen Regal neben ihr runter und ziehe mein pink-graues Buch hervor. Ach, ach, die guten alten Zeiten. Ob die Polizei schon am Tatort ist? Als ich mich zu meinen Pflegeprodukten im obersten Regal meines Schreibtisches stelle, bemerke ich, wie viele Produkte doch blau sind. Selbst mein Gebetsteppich und die Blumen auf dem Gebetsgewand sind blau. Das erste Buch auf meinem Stapel ungelesener Bücher auf meinem Bett ist blau und erst jetzt fällt mir so richtig auf, dass meine Thiemebücher auch einen hellblauen Teil auf ihren Covern besitzen, mal abgesehen von den ganzen hellblauen Kugelschreibern in meinem Becher. Ich konnte mir sein Gesicht nicht merken, habe nur vage Umrisse im Kopf. Ich weiß nur, dass er dunkles Haar hat, stechend blaue Augen und einen Ohrring trägt.

Selbst als ich meine unterste Schrankschublade öffne, springen mir die drei blauen BHs zu aller erst ins Auge! Wieso habe ich zwei hellblaue? Ich verdrehe meine Augen, nehme aus Prinzip das dunkelrote Set und meine Schlafsachen, bevor ich allen in der Wohnung Bescheid gebe, dass ich duschen will. "Ich will Zähne putzen!", ruft Pelin aus dem Nachbarzimmer, aber die ignoriere ich gekonnt. Zähneputzen dauert keine fünf Minuten und außerdem bleibt sie sowieso bis Mitternacht wach. Ich schließe das Fenster und schäle mich langsam aus meiner Kleidung, kämme mir über der Toilette meine Haare aus, bevor ich die einzelnen Strähnen aus dem Kamm zupfe und in den Müll werfe. Mein Blick gleitet wieder zum Fenster, das ich noch einmal nachträglich verschließe und dann in die Badewanne hüpfe. Ich seufze tief beim Auftreffen des warmen Wassers auf meine Haut. Ich habe keine Lust, morgen wieder zu arbeiten. Ich weiß, dass das Labor nach den ganzen Bakterien im Brutschrank stinken wird. Zudem bin ich in derselben Schicht wie diese unfassbar nervige Italienerin eingeteilt, die mehr Unwissen als Wissen mit sich trägt. Wie kann man so selbstbewusst sein, wenn man nicht einmal weiß, wie man Bruschetta ausspricht? Und als sie deshalb wirklich googeln wollte, wollte ich durchdrehen. Dass man die eigene Muttersprache nicht kann, ist eine Sache. Dass man auf Unwahrheiten beharrt, die andere.

Ich drücke den Duschkopf gegen meine Brust, schließe meine Augen, als ich einen entspannenden Atemzug nehme. Ich will weder raus aus der Dusche noch in wenigen Stunden wieder aufstehen. Außerdem will ich etwas essen, aber ich habe keine Lust auf Reis. Ich bin seit Jahren auf einer halben Reis-Abstinenz, weil ich es mir einfach nicht mehr geben kann. Wenigstens hat meine Mutter Avka nûka gemacht. Ich freue mich auf die gekochten Kichererbsen in der würzigen Hühnerbrühe. Davon kann ich eine Menge schlürfen. Ich schreibe Avdar aus der Dusche, dass sie mir gleich Frühlingsrollen machen soll. Mich überläuft plötzlich ein kalter Schauder. Ich drehe mich hektisch um, schaue wieder zum Fenster und zurück. Da ist nichts. Dieser kranke Mörder beeinflusst mich mehr als er sollte. Was ist, wenn er mich morgen erschießt? Ich atme tief durch. Sollte heute mein letzter Tag sein, werde ich die Gebete so konzentriert und der Sunnah folgend wie möglich verrichten. Hoffentlich liegt morgen kein Gewebe vor, das Splitter einer Kugel in sich aufweist. Wann die Polizei und die Nachrichten vom Mord mitkriegen? Eines der ganzen modernen Häuser wird es doch wohl sicherlich mit einen der Sicherheitskameras aufgefasst haben. Aber ich weiß nicht, wie weit diese Kameras alles auffassen und der Mord fand weiter weg statt. Und ich weiß vor allem nicht, wozu dieser Mann noch alles in der Lage ist. Wer sagt denn nicht, dass er mit seiner Macht alles durch Korruption fallenlassen könnte?

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt