Kapitel 60

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Wir sind nun seit drei Tagen in der Schweiz und das Klima zwischen Azad und mir ist nach wie vor distanziert. Seit unserer Ankunft bin ich antriebslos und habe nicht das Haus verlassen. Meine Katzen hingegen scheinen ihren neuen Wohnort sehr zu mögen und schauen jeden Morgen aufgeregt den Vögeln am Fluss zu, den man durch die gigantische Fensterfront im Wohnzimmer sehen kann. Meistens sitzen wir im Wohnzimmer, während er arbeitet und ich lese oder Löcher in die Wand starre. Seit unserer Ankunft fühle ich mich demotiviert. Ich habe keine Lust, Vorlesungen nachzuarbeiten, während Jamal fleißig dabei ist. Azad tritt gerade wieder ins Wohnzimmer. Ich sehe seine zögernde Statur im Augenwinkel, spreche aber nichts an. "Fühlst du dich in der Lage, eine Einladung zum Essen anzunehmen?" Überhaupt nicht. "Es ist eine Familie, die uns sehnsüchtig empfangen will." Mein Blick gleitet träge zu ihm. Azad knetet unsicher seine Hände. Seine Augenbrauen sind bedauernd zusammengezogen. "Habe ich eine Wahl?" Er seufzt, läuft dann auf mich zu und kniet sich vor mich hin. "Ich weiß, dass es dir hier nicht gefällt. Ich würde auch lieber in der Nähe meiner Familie sein, aber es geht um dich." Er hat ja recht.

Es gefällt mir nicht, dass unsere Beziehung durch den Umzug noch weiter leidet, aber aktuell fühle ich mich besonders träge und lustlos. Ich lasse meine Finger auf seiner Schläfe kreisen. "Werden wir lange bleiben?" Ich sehe Hoffnung in seinen blauen Augen schimmern. "Ich werde mich bemühen, dich da schnell wieder wegzukriegen." Hm, wenn es sein muss. Es wird sicherlich eine einflussreiche Familie sein und sicherlich steht uns Schutz dank ihnen zu. Da sollte ich nicht so unhöflich sein. "Muss duschen." Azads Züge erhellen sich bei meiner indirekten Zusage. Es ist schön, ihn endlich wieder lächeln zu sehen. "Gut, ich warte dann." Mich verlässt die Lustlosigkeit nicht, sodass ich in die Wanne steige und meine Haare im Sitzen shampooniere. Azad scheint wohl ein Outfit für mich im Sinn gehabt zu haben, dem schwarzen Rollkragenpullover und der dunkelblauen Jeans zu urteilen. Mich besänftigt es, dass er sehr ähnlich gekleidet ist mit seinem schwarzen Feinstrickpullover und seiner verwaschenen Jeans, die ich so gern an ihm mag. Ich benötige länger als sonst, um mich umzuziehen. Ich fühle mich schlapp und habe kaum Bedarf, etwas zu tun. Ich reagiere sogar kaum, als Azad das Anziehen der Schuhe für mich übernimmt.

"Wir können uns morgen Autos angucken und dir ein Modell kaufen." Ich habe keine Lust. "Wann anders vielleicht." Ich spüre seine Trauer und Sorge durch seine Hand, die meine drückt. Selbst die Geschwindigkeit seines Daumens, der meinen Handrücken streichelt, gibt mir Auskunft darüber. Ich bedanke mich leise für das Helfen ins Auto und schnalle mich an. Außer uns scheint es wohl kaum Zivilisation zu geben. Erst nach mehreren Kilometern sehe ich vereinzelnd Häuser oder Hütten. Wo die Wachmänner leben, weiß ich nicht. Hoffentlich haben sie es nicht weit. "Es tut mir leid, Avin." Bitte nicht. Meine Augenbrauen ziehen sich angestrengt zusammen, obwohl es keinen Grund dafür geben sollte. Es ist das einzig Richtige, aber ... keine Ahnung. "Passt schon." "Hör auf zu lügen." "Es ging nicht anders", betone ich. "Du bist traurig und besorgt." Keine Ahnung, ob ich es so bezeichnen würde. "Ich habe dir ein Versprechen gegeben. Deine Bildung wird nicht gefährdet. Ich bin mir sicher, dass du nur Zeit zum Gewöhnen brauchst und dann wieder meine alte, herrsche Geschäftsführerin wirst." "Du bist der Alte von uns, vergiss das nicht." Seine raue, unterdrückte Lache erfüllt den Innenraum und steckt auch mich ein kleines bisschen an. Daher schaue ich verheimlichend aus dem Fenster. "Und ich hatte schon Angst, dass du mich nicht mehr auf meinen Platz verweist." Ich schmunzele. "Die einzige Sache, um die du dir niemals Sorgen machen musst." Daraufhin seufzt er erleichtert.

Wir befinden uns in einer sehr naturbelassenen Gegend. Viele Berge, viel Wasser und vor allem viel Grünes. Im Sommer ist es hier sicherlich schön, aber ich war mit meinem See zufrieden. Wie lange werden wir hierbleiben? Was ist mit Sherzad und Nazdar? Wo wird sie festgehalten? Und was ist der Plan für die nächsten Monate? Was ist, wenn auch in der Schweiz Gefahr besteht? Die Fahrt vergeht schweigend. Es liegt eine Kluft zwischen uns, die Azad sichtlich unwohl fühlen lässt. Immer wieder bemerke ich, wie er zu mir schaut, leise seufzt und unruhig meine Hand drückt. Auch jetzt, wo wir durch große Tore auf das riesige Anwesen fahren. Hier wimmelt es nur von Sicherheitsmännern, teuren Autos und dunklen Geheimnissen. Ich warte auf sein Zeichen, aussteigen zu dürfen, nur verwirrt es mich, dass er mich für einen Moment verdutzt anschaut, bevor er die Beifahrertür für mich öffnet. "Alles in Ordnung?" "Ja, ich soll doch immer warten." Tritt der Gedächtnisschwund wirklich schon bei ihm ein? Was ist daran so lustig? "Avin", raunt er schmunzelnd, ehe er meine Nasenspitze küsst. "Wir sind in der Schweiz. Hier brauchst du dir keine Sorgen zu machen." Oh ... stimmt. Da war ja was. "Aber ich halte dir dennoch die Tür offen. Mich hat dein Blick bloß verwirrt." Verständlich. Heute bin ich nicht ganz bei mir. Ich habe auch ein wenig das Zeitgefühl verloren.

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