Kapitel 46

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"Bist du bereit?" "Nicht wirklich." Azad schleppt mich seit seiner Genesung fast täglich in die Halle, um mich mit Gewehren und Messern vertraut zu machen. Fallmesser, Springmesser, Faustmesser, Frontspringmesser und weiß Gott noch was. Dank Azad weiß ich jetzt, dass der eigentliche Begriff für mein Butterfly-Messer Balisong-Messer ist - und dass all diese Messer unter das Waffenschutzgesetz fallen und damit für uns verboten sind. An sich habe ich nichts gegen den Unterricht, nur ist dieser alte Mann so krank und besteht darauf, dass wir einen Kampf simulieren. Habe ich es verneint, hat mich dieser Mann gekitzelt, sodass ich nicht anders konnte, als handgreiflich zu werden. Und meine Hände taten danach immer weh, weil er so steinharte Knochen hat! Ich dachte, in diesem hohen Alter sind sie porös. "Stell dir vor, ich bin von der Gegenpartei und will dich attackieren. Was machst du?" "Wegrennen", betonte ich genervt. Wie oft wollen wir das noch wiederholen? Als ob ich mich in so einer Lage einem bewaffneten Mann stelle. Ist Azad grenzdebil oder tut er nur so? "Nein, du-," "Ich werde nicht schießen und ihn auch nicht mit einem Wurfmesser abwerfen." Großer Gott, es kann doch nicht sein, dass er es nach einem Monat immer noch nicht begreifen will. Und als wäre es der erste Tag, schaut er mich genauso konsterniert an!

"Vergiss es!" "Avin, du musst dich verteidigen können", versucht er mir dringlich zu erklären. "Es ist mir egal. Ich werde von meiner Panik geleitet werden." "Genau deshalb will ich es doch mit dir simulieren." "Ich werde dich höchstens auslachen. Das kannst du doch nicht mit einer ernsten Lage vergleichen." Ich muss allein bei dem Gedanken schmunzeln. Azad fährt sich seufzend durch sein schönes Haar, das durch die Hitze wieder so schön gekräuselt an seiner Stirn liegt. Da überkommt mich das Verlangen, durch sie zu fahren und Azads Kopf daran zu Boden zu schmettern. "Wieso habe ich das Gefühl, dass du mich seit dem Kuss nur noch weiter demütigen willst?" Sein Mundwinkel hebt sich belustigt. Wenn er nur wüsste, wie verrückt ich innerlich spiele, sobald er auf mich zukommt - wie jetzt. Mein Herz schlägt zu schnell. Mein Bauch dehnt sich, nur um sich daraufhin zusammenzuziehen. "Einer muss dich auf den Boden der Tatsachen holen." In meinem Bauch beginnt das Flattern, als er seine Hände um meine Oberarme schlingt und mich daran nach hinten drückt. Wenn ich ehrlich bin, verspüre ich auch eine kleine Angst. Deshalb kann ich auch nicht lächeln. Er macht nichts. Er tut mir nichts. Azad ist gerade nur verspielt, aber ich kriege das Gefühl nicht abgeschüttelt, dass er mir gleich seinen Handrücken quer über das Gesicht ziehen wird.

Genug! Ich habe keine Geduld für die Stressreaktion. Ich drücke seine Hände von mir, schaue ihn verkniffen und mit halbem Ekel im Gesicht an, auch wenn keine Absicht dahintersteckt. Ich erschaudere trotzdem. Ich zucke dennoch zusammen. Ich hasse es. Und auch Azad findet keinen Gefallen daran. Seine Schultern sinken immer so enttäuscht. Ich verstehe ihn. Es tut mir auch leid, aber ich kann es nicht loswerden und das weiß er auch. So schnell kann ein Jahrzehnt an Erinnerungen nicht gelöscht werden. "Wie kann ich dir helfen, dich bei meinen Berührungen voll und ganz wohlzufühlen, Avin?" Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Man muss positive Assoziationen finden, aber das lässt sich leichter sagen als umsetzen. Keine Ahnung, wie ich das hinkriegen soll. Will er sich von mir verprügeln lassen? Muss ich mich therapieren lassen? Ich weiß es nicht. Weil die Stimmung jetzt gerade auch zu angespannt ist, um sich auf das Training zu konzentrieren, lasse ich mich auf dem Sofa nieder. Azad folgt mir erst, als ich sitze. Vielleicht, weil er mich nicht noch unwohler fühlen lassen wollte. Vielleicht aber auch, weil er erst die Lage verstanden und verdaut hat. Er bleibt vor mir stehen, die Hände an die bedeckten Hüften in dunkelblauem Stoff. "Was mache ich nur mit dir, Schneeflocke? Meine Frau sollte sich bei meinen Berührungen wohlfühlen und sich nicht fürchten." Keine Ahnung. Und weil ich ihm nicht in seine Augen schauen kann, wenn er vor mir steht, während ich sitze, schaue ich auf seine Gürtelschnalle.

Ich höre ihn entweder schnauben oder belustigt durch die Nase auflachen. Wenn ich nur einmal hochschauen würde, wüsste ich es, aber ich mag seinen Schoß. Er sieht so gemütlich aus, wie er ist. So komme ich auch von den Gedanken weg. Und als würde dieser große Mann meine Gedanken lesen und sie sabotieren wollen, beugt er sich vor. Dieses Mal legt er seine Hände auf meine Schenkel, stützt sich an ihnen ab, während seine Nasenspitze meine streift. Ich bin verdutzt und doch zu überfordert von der Nähe, um sie gescheit zu registrieren. "Ich möchte meiner kühlen Frau emotionalen Komfort leisten und sie ist so schamlos und schaut mir auf den Schritt. Als Geschäftsführerin kannst du nicht einfach mit deinen Kunden schlafen." Meine Lippen zucken verräterisch, aber ich schaffe es, nicht zu schmunzeln. Er reicht unfassbar gut. Und seine Haare sitzen so unverschämt gut. "Ich habe auf deine Gürtelschnalle geguckt." "Gibt es einen Grund?" "Ja." "Nenn ihn mir." Seine Hände drücken sich sanft in meine Oberschenkel, entlocken ihnen ein sanftes Kribbeln und Ziehen. "Kannst dich entscheiden", schmunzele ich. Kurzerhand entscheide ich mich, ihn an seinen Schultern auf die Knie zu drücken. Ich sehe zum ersten Mal einen Mann, der sich dadurch nicht in seiner Würde verletzt fühlt. Im Gegenteil: Seine Augen leuchten vor Freude. "Nenn mir meine Möglichkeiten."

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt