Kapitel 62

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Ich schaue auf das Marmita, das Jamal aus dem Tajine für mich in einen Teller gibt. Durch den Stress habe ich eigentlich keinen Hunger, aber wenn ich mein Lernen kopfschmerzfrei genießen will, muss ich etwas zu mir nehmen. Ich schniefe leise, als ich mich bedanke. Noch wirkt die Wohnung kahl, aber dennoch nett. "Denkst du, er wird hierhin kommen?" Jamals grünen Augen schielen zur Seite, als er sich hinsetzt. Oh nein. "Er ist vor der Tür?" "Ich habe mich schon gewundert, dass die Tür teile ist." Das würde er nicht machen. Azad würde keine Tür eintreten, solange keine Gefahr besteht und aktuell ist er die Gefahr. Ich möchte ihn nicht sehen. Es ist mir egal, wie schlecht er sich fühlt. Er hat mich hinterrücks attackiert. Er hat ... ich will es nicht einmal in Gedanken aussprechen, weil ich sonst weinen könnte. Ich ignoriere den Fakt einfach, auch wenn meine Hand beim Essen zittert. "Kannst du schon die Nomenklatur für die organischen Verbindungen?" "Bisschen", murmele ich. Ich weiß, dass Jamal große Schwierigkeiten mit der Chemie hat, aber da kann ich ihm helfen sowie er mir in Physik hilft. Hätte mein gestörter Ehemann mich nicht angegriffen, hätte ich mich auch an ihn gewendet, aber er greift mich ja lieber an, ohne mich anzusehen.

Das Ganze ist mir so unangenehm, dass ich nicht einmal mit Jamal sprechen möchte. Vom gesamten Personal will ich nie wieder etwas hören und möchte sie am liebsten alle nacheinander ohrfeigen, dass sie das zugelassen haben. Selbst beim Spülen und Lernen werde ich von der Wut deshalb besetzt. Ich hoffe, Jamal bemerkt davon nichts, während ich ihm Chemie erkläre. Nichts von meiner Passiv-Aggressivität ist an ihn gerichtet. Heute wird kaum etwas in meinen Kopf gehen, das weiß ich. Nur mit einigen Eselsbrücken schaffe ich die eine oder andere Verbindung, aber sonst tauge ich heute nur als halb anwesende Nachhilfelehrerin. Steht er immer noch vor der Wohnung? Wann will er endlich gehen? Ich habe mein Handy schon abgeschaltet deshalb und wollte es auch Jamal sagen, aber er muss im Falle eines Notfalls erreichbar sein. Irgendwann ist meine Konzentration derart futsch, dass ich Halbkreise in die Ecken meines Blocks zeichne. Jamal hingegen ist sehr fleißig, aber auch nur, weil er sonst nicht mit der organischen Chemie klarkommen wird. "Immer noch niemanden gefunden, Jamal?" Nur mit persönlichen Fragen kann ich meinen persönlichen Problemen entkommen. "Leider nicht", seufzt er schmunzelnd. Ich tue es ihm müde nach.

Langsam werde ich wirklich müde. Meine Augenlider fühlen sich geschwollen an, aber alles in mir sträubt sich dagegen, mit Azad zurückzufahren. Ich könnte Jamal darum bitten, mich zum Hause zu fahren, aber ich möchte ihn damit nicht belasten. Das Ganze nervt mich so sehr, dass ich mir seufzend über mein Gesicht fahre. Ich will schlafen. "Ich bin fertig für heute, Jamal. Wenn du noch weiterlernst und Fragen hast, schreib mir, aber es kann sein, dass ich gleich einschlafe." Er erhebt sich mit mir, um mich nach unten zu begleiten. Ich lehne es zwar ab, aber es ist seine Pflicht, mich zu schützen. Nur ist es mir unangenehm, weil ich vor Stunden noch von meinem ach so genialen Ehemann attackiert wurde. Der Bewegungsmelder nimmt uns wahr und erfrischt uns neben der kalten, frischen Luft mit Licht, als wir aus dem Komplex treten. Mein Bauch sackt bei seinem Anblick zusammen. Er steht seit Stunden in dieser Dunkelheit an seinem Auto. Sein Gesicht ist ramponiert und unter seinem linken Auge hat sich ein dunkler Schatten gebildet. Ich wende verachtend meinen Blick ab. In mir sträubt sich nach wie vor alles dagegen, ihm näherzukommen. "Danke, Jamal. Du kannst wieder rein", gebe ich leiser von mir und weiche Azad aus, als er auf mich zukommen möchte. Ich lasse mich nicht einmal auf dem Beifahrersitz nieder, als er mir die Tür öffnet, sondern lasse mich auf dem Rücksitz links nieder. Jamal steht immer noch draußen. Vielleicht, weil er Informationen mit Azad austauschen muss. Vielleicht aber auch, um einzugreifen, sollte mein Ehemann wieder von jeglicher Vernunft verlassen werden.

Als sie dann beide verabschiedend nicken, setzt mein Herz aus. Ich spüre den Stress in mir zunehmen und meine Kehle hinaufkriechen, als Azad sich ins Auto setzt. Mein Körper drückt sich mehr nach links zur Tür. Dass er sich zu mir umdreht, macht es nur schlimmer für mich. Mir ist plötzlich unerträglich heiß in dieser Jacke. Mein Rücken presst sich immer fester gegen die Tür. "Dreh' dich um", presse ich angestrengt hervor. Ich kann mir keinen Stress erlauben. Azad seufzt leise, geht meinem Befehl aber nach und fährt uns zurück. Ein Teil von mir verachtet mich dafür, dass ich mit ihm zurückfahre, aber ein anderer Teil fände es unangebracht, bei Jamal zu übernachten. Es hätte ihn sicherlich in Schwierigkeiten oder zumindest in Verlegenheit gebracht. "Hast du gegessen?" Ich antworte nicht. In diesem Moment würde ich sogar den Atem anhalten, wenn seine Atmung mit meiner synchron wäre. Es folgt ein tiefes Seufzen seinerseits. "Avin, ich kann nichts anderes tun, als mich zu entschuldigen." Das ist mir scheißegal. Er soll nicht darüber sprechen. Allein die Erinnerung, wie er mich an die Wand gedrückt hat ... oder war es gegen die Tür? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß, dass er mich angegriffen hat, aber bei negativen Ereignissen, vergesse ich immer, was passiert ist. Ich kann es nur vage wiedergeben.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt