Kapitel 30

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Der heutige Tag verspricht entspannter zu sein, dadurch, dass wir heute auf Verkehrsmittel - bis auf den Jetski gleich - verzichten. Mit einem lockeren, schwarzen T-Shirt über dem schwarzen Badeanzug und mit Azads schwarzer Badehose werde ich gleich kaum Licht reflektieren, sondern nur absorbieren. Erinnert mich an das Prinzip des Fotometers, das ich bis heute hasse und verabscheue. Physik ist nicht meins und ich freue mich überhaupt nicht darauf, im ersten Semester damit konfrontiert zu werden. Dann kann er mir ja Nachhilfe geben. "Bist du fertig?" Ich bestätige es ihm, schultere die große Tasche, die er mir wieder abnimmt. "Passt schon." "Ich bestehe darauf." Er hat schon die Henkel in der Hand. Es steht ihm, die Tasche in der Hand zu halten, das muss ich ihm lassen. "Willst du dir vielleicht offene Schuhe holen? Ist dir nicht warm in den Sneakern?" "Passt schon." Ich hasse offene Schuhe, wenn es keine schönen High Heels sind. Wenn ich alleine bin, geht es noch irgendwie, aber jetzt mit einem Ehemann ... argh. Da wäre es mir lieber, wenn meine halbe Brust raushängt, als meine Füße zu zeigen. "Trägst du gern High Heels?" "Hab keine Möglichkeiten, sie zu tragen." "Für die Gala brauchst du welche. Wir können heute schauen gehen, wenn wir nach Abu Dhabi fahren." "Hab doch welche." Die Valentino Pumps, die beigen Yves Saint Laurent Opyum Sandalen, die ich auf der Hennafeier getragen habe und die Versace Medusa Aevitas zur Nikkah. "Haben sie dir überhaupt gefallen?" "Ja." "Gut. Wir kaufen dir dann noch welche für die Gala." "Passt schon." "Nein, nein. Ich bestehe darauf. Du sollst dir in deinen Flitterwochen etwas gönnen." Aber ich gönne mir doch schon Ruhe.

Azad führt uns an eine Stelle nahe dem Jetskiverleih, als ich mir meine Air Force ausgezogen habe. Ich halte die Decke schon bereit und falte sie mit Azad auf, als wir uns am Ufer niederlassen. Um uns herum sind die verschiedensten Menschen; bedeckte Männer und Frauen, freizügigere Männer und Frauen, irgendwelche Blogger, die seit sicherlich fünfzehn Minuten Fotos machen, ihren Bauch einziehen, eine pathologische Lenden-Lordose haben, die ihre Bandscheiben einquetscht, nur um sich gleich noch weiter zu bearbeiten und ihr Handy durch das ganze Arbeiten heißer werden lassen als die strahlende Sonne. Na ja, was auch immer. "Cremst du mich bitte wieder ein?" Fast, aber nur fast gewinnt mein Schmunzeln die Oberhand. "Hinsetzen." "Was immer du wünschst, Schneeflocke." Ich rutsche ein Stück nach hinten und nehme die Tube aus der Tasche, als er sich das T-Shirt auszieht und die Schultern einmal kreisen lässt. In diesem Licht sehen seine Narben noch einmal anders aus. Viel blasser. An einigen Stellen sehe ich weißes Gewebe, aber überwiegend rosafarbiges. Manchmal wirkt es auch rötlicher. Sie sind das perfekte Beispiel dafür, wie das Kollagen beim Ersatzgewebe nicht mehr überkreuzt, sondern parallel angeordnet wird. Ich nehme mir viel Zeit, seinen Rücken einzucremen. Ich mag es. Vor allem mag ich es, seinen Nacken und seinen Hals einzucremen. "Hast du eine Neigung, mich würgen zu wollen?" "Wäre es ein Problem?" "Das müssen wir erst ausprobieren, Schneeflocke." Ich schmunzele, aber das sieht er zum Glück nicht. Stattdessen übe ich wieder sanften, neckenden Druck auf seinen Hals aus.

"Was sagst du zu einem hellblauen Kleid?" "Mir egal." "Ein gewisses Modell?" "Nicht zu viel Brust. Ich habe keine Lust auf alte Männer, die mich angaffen." "Dafür sind meine Waffe und ich da, Schneeflocke. Irgendetwas, was du an Kleidern hasst?" "Zu kurze. In denen kann ich mich nicht bewegen, ohne meinen Po zu zeigen." "Bodenlang also?" "Ja." "Dann sieht aber niemand die schönen Fußkettchen." Ich schmunzele. "So ist das Leben." "Willst du wieder ein Langarmkleid?" "Mir egal, muss nicht sein." Ich brauche mehr Sonnencreme. Dieser Mann besitzt viel Masse. "Wie viel wiegst du? 100?" "110." 110?! Da sieht man wieder, wie schwachsinnig und nutzlos der BMI ist. 110 Kilo? Ich hebe überrascht meine Augenbrauen. "Und wie groß bist du?" "1.97." Schön. Ich mag die Größe. Kein Wunder, warum wir bald Sonnencreme kaufen müssen. "Du verbrauchst die ganze Tube." "Tut mir leid. Ich kaufe uns einen Vorrat." Gut. Sonnenschutz ist das A und O. "Ich sage dir aber welche. Du kennst dich mit Formulierungen nicht an." "Hast du das auch in deiner Ausbildung gelernt?" Ich schnalze die Zunge, als ich die neue Ladung Sonnencreme auf seinem unteren Rücken verteile. "Lesen und Recherchieren." "Gefällt mir." "Ruhe." Alter Schleimer. Nur noch die Schultern und die Arme und dann kann er sich selbst den vorderen Teil des Oberkörpers eincremen. "Danke, Schneeflocke. Deine Hände erweisen sich als sanfte Waffen." "Sie können auch anders." Er schaut schmunzelnd über seine Schulter. "Was muss ich dafür geben, um genau das zu erleben?" "Wenn du so weiter machst, ist es nicht mehr weit", warne ich ihn, doch er lacht nur besonnen.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt