Kapitel 66

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Azad

"NEIN!" Ist mir egal. Ich schlage mit dem Holzbrett von oben, unten, links und rechts auf Sherzads Kopf ein. Nazdar kann so viel schreien und heulen, wie sie will. Keine Gnade mehr. Mein Kind ist gestorben. Meine Frau liegt im Krankenhaus. Meine Sicht ist geschwärzt. Seinetwegen hat Avin mir misstraut. Seinetwegen wollte sie vor mir flüchten, obwohl ich einst ihr Rückzugsort war. Seinetwegen erschaudert sie wieder, wenn ich hinter ihr bin. Seinet. Wegen. Ich muss mich dennoch beherrschen. Ich darf ihn nicht töten. Noch nicht. Ich muss ihn und seine schäbige Tochter leiden lassen. Es rauschen zu viele Ideen durch meinen Kopf, als dass ich die eine Vision habe, wie sie beide zugrunde gehen. "Lass ihn! Nimm mich, bitte lass ihn!" Ich schaue genervt und nahezu angeekelt über meine Schulter. Sie denkt ja wirklich, ich werde ihr kein Haar krümmen. Süß. Ihre altruistische Ader werde ich ihr höchstwahrscheinlich aufschneiden und in den Mund und in die Augen ihres Vaters auslaufen lassen. Ich weiß es nicht. Es ist 03:30, als ich das Blut von meiner Audemars Piguet wische. Avin schläft seit vier Stunden. Ich habe mich immer noch nicht überwinden können, ihr vom Kindesverlust zu erzählen. Sie weiß nicht, dass es sich bei der sublingualen Tablette gestern um Misoprostol handelte. Die nächsten Stunden wird sie im besten Fall denken, dass das Blut durch die Verletzung kommt und durch den Urin aus ihrem Körper gespült wird. Ich muss es ihr sagen, aber ich habe viel zu große Sorge um ihren Zustand danach.

Ich bin viel zu unkonzentriert und unter Zeitdruck. Eigentlich wollte ich Avin nicht verlassen, jedoch würde ich keine Ruhe finden, wenn ich die Personen nicht endlich zur Rechenschaft ziehe. Ich war viel zu barmherzig. Ich war viel zu geduldig. Ich war dumm. Mein Körper ist von purer Taubheit besetzt, als ich auf den bewusstlosen Körper des Mannes schaue. Ich will ihn nicht einmal beim Namen nennen, weil ich ihn so stark hasse. Erbärmlich. Er hält ja nicht einmal vier Schläge aus. Als ich mich zur schäbigen Tochter umdrehe, zuckt diese ängstlich zusammen. Kein Mitleid mehr. Ich werfe das Holzbrett vor ihre Füße, empfinde nichts als pure Aggression, als sie ängstlich zusammenzuckt. Jedes Blinzeln und jeder Atemzug ihrerseits wird alles für sie und ihren Drecksvater verschlimmern. Der Rest ihrer verbitterten, gierigen Sippe soll abwarten. "Bitte, Azad", flüstert sie zittrig, als ich langsam auf sie zugehe. "Ich tue alles für dich. Du kannst mich benutzen wie es dir gefällt, aber bitte keine Folter." Ich schnaube verachtend. Mein Mundwinkel hebt sich vielleicht eine Sekunde. Fast, aber nur fast rast meine flache Hand gegen ihr Gesicht, doch Avins Vergangenheit hält mich davon ab. Dieses Weib denkt wirklich, ich würde es in Erwägung ziehen, sie für meine Gelüste zu nutzen.

Ich gehe an ihr vorbei - nah. So nah, dass sie verschreckt wegzuckt. Es bringt ihr nur sehr wenig, wenn sie gefesselt auf einem Stuhl sitzt, aber gut. Es soll nicht an mir scheitern. Ich fahre absichtlich über alle Werkzeuge, die auf dem Tisch verteilt sind, wohl bewusst, dass sie deswegen leise im Hintergrund weint. Anfangs hatte ich noch Mitleid und habe ihr deswegen nichts angetan. Anfangs war mir auch nicht bewusst, dass sie dennoch Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen konnte und aus Wut gefordert hat, dass Avin sterben soll. Der Gedanke ... ich werfe die Zange auf den Boden, spüre in jeder Pore Aggression, als sie wieder hässlich aufjault. Sie haben meine Schwachstelle gefunden. Sie haben Avins Vergangenheit verfolgt und es gegen uns benutzt. Ihretwegen habe ich mein Kind verloren, daher ist es nur mehr als fair, wenn ich mich revanchiere. Ich nehme das Skalpell zur Hand. Es wird simpel und minimalistisch und doch schreit und weint sie, als sie die kleine Klinge sieht. "Schlaf gut, Nazdar."

***

Avin hat die schlechte Eigenschaft, sich im Schlaf hin und her zu wälzen. Sie schläft bevorzugt auf ihrer linken Seite und selbst jetzt mit zwei Schusswunden hält sie nichts davon ab. Ich hingegen habe die Sorge, dass ihre Wunden dadurch schlechter abheilen und sie Schmerzen erleidet. Die Sonne ist schon aufgegangen, das Frühstück steht schon bereit. Ich möchte sie sofort nach Hause bringen, um meine gesamte Zeit damit zu verbringen, sie zu pflegen. Mich provozieren die zwei trockenen Brötchen, die sie essen soll. Sie verdient ein besseres Frühstück. Sie muss heute duschen, ansonsten wird ihre Kopfhaut wieder jucken. Ich ziehe vorsichtig ihre Decke hoch, um zu schauen, ob sie Blut an ihrer Hose hat. Es ist also noch alles in Ordnung. Ich muss es ihr sagen, aber ... ich habe Angst, dass sie sich weiter von mir distanzieren wird. Ich kann das nicht. Ich würde es nicht gut vertragen. Mein Herz rast schon vor Nervosität, weil sie ihre Augen öffnet. Im Krankenhaus kann sie nicht ausschlafen. Ihre innere Uhr passt sich stets ihrem Umfeld und den Gegebenheiten an. "Guten Morgen." Ich lächele und fahre ihr sanft über ihr Haar. "Morgen", murmelt sie. "Wo hast du geschlafen?" Ich habe überhaupt nicht geschlafen, daher ist der Ort nicht von Relevanz. "Auf dem Stuhl. War ganz angenehm." Ich fahre für sie das Kopfteil des Bettes hoch und schiebe dann den ausgefahrenen Nachttisch mit dem Frühstück zu ihr, übernehme aber dann doch das Aufschneiden der Brötchen über dem Mülleimer, damit ihr Bett nicht schmutzig wird.

Durch den Weg deines HerzesDonde viven las historias. Descúbrelo ahora