Ich bin nach 03:00 Uhr erst schlafen gegangen. Ich hatte kaum Müdigkeit in mir. Ich bin hellwach geblieben, bis ich endlich mit der Onlineversion eines meiner Lieblingsbücher einschlafen konnte und sonst schlafe ich immer während eines Kapitels ein, aber dieses Mal war es nicht so. Ich habe mich hin und her gewälzt, mir Szenarien ausgemalt, wie es heute sein wird. Wie er reagieren wird. Wie er handeln wird. Was er zu sagen hat. Und immer wieder hat er so reagiert, wie ich es wollte. Ich weiß nicht, ob es irgendetwas evolutionär Verankertes in mir ist, dass ich mich so sehr mit dem Make-up und der Körperpflege heute bemühe, aber ich bin voller Energie bei jedem einzelnen Schritt. Meiner Mutter schicke ich ein Bild von mir, damit ich ihr diese kleine Bitte nicht abschlage. Heute steht ihre Herzkatheteruntersuchung an und dann wird entschieden, wann sie entlassen werden kann. Sie hat mir erzählt, dass mein Vater seinen Junkiesohn in der Werkstatt verprügelt und sogar die Treppen runtergeschmissen hat, als er dort aufgetaucht ist. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso er nicht hier ankam, aber mir ist es recht. Ich brauche keine Lasten. Er kann uns allen gestohlen bleiben, so viel Geld, wie er meinen Eltern geklaut hat, Eigentum entwendet und wie viel er gelogen hat, obwohl sie immer Nachsicht mit ihm hatten. Wie viele Tränen meine armen Eltern wegen eines Süchtigen verloren haben, der nicht einmal in die Therapie gehen will. Ich hoffe, er kommt nie wieder und wenn es das Einzige ist, was mir der Mörder erfüllen kann, würde ich der Heirat zustimmen. Einfach, damit meine Eltern ein beruhigtes Leben haben. Damit meine Mutter in Ruhe alleine in der Wohnung bleiben kann, falls mein Vater mal endlich Länder bereist, um abzuschalten.
Ich creme mir noch einmal nachträglich mit meiner Rituals Bodycreme meine Schultern und Dekolleté ein, sogar meine Ohren und den Nacken, ehe ich meinen Highlighter auf meinen Schlüsselbeinen und Schultern verteile. Sobald ich das feine Puder auch an den geeigneten Stellen in meinem Gesicht aufgetragen habe, kann ich mir das Küchenpapier aus dem Busen ziehen. Perfekt. Nichts auf dem Kleid. Meine Lippenkombination sitzt perfekt. Der Eyeliner wurde lange nicht mehr so gut gezogen wie heute und mit der Ebastel-Tablette hoffe ich, dass meine Lider nicht wegen der Schminke anschwellen. Wenn doch, habe ich noch meine Cortisonsalbe bei mir, von der ich mir eine dünne Schicht vor zwei Stunden aufgetragen habe. Gott, ich bin so nervös! Mein Herz schlägt so penetrant fest in meiner Brust. Es ist gleich 17:00 Uhr. Ich muss meiner Mutter noch ein Bild schicken! Ich mache schnell eins vor dem Spiegel, mache sogar noch ein Video, damit sie auch die Rückseite des Kleides sieht und schicke es ihr mit ganz vielen roten Herzen. Meine goldenen Spangen halten meine geglätteten Haare fest hinter meinen Ohren, sodass er meine kleinen Goldcreolen sehen kann. Ich hätte auch mehr Ohrschmuck anziehen können. Immerhin habe ich ja auch ein Tragus und ein Mid-Helix genau gegenüber dem Tragus-Piercing, aber für heute soll es so schlicht wie möglich gehalten sein. Nur noch das passende Bodyspray meiner allerliebsten Rituals-Reihe und meine Kette mit dem lila Tropfen. Oh Gott, noch zwei Minuten und es ist 17:00 Uhr! Ich ziehe mir schnell die Schuhe an. Steht er schon vor der Tür? Soll ich ihm schreiben? Ich will nicht so aufgetakelt unten stehen, wenn er nicht da ist, aber wenn er nicht pünktlich ist, braucht er auch gar nicht zu kommen. Tief durchatmen, Avin. Er wird schon wissen, dass ich eine Frau mit Ansprüchen bin.
Ich renne mit diesen potenziellen Waffen an meinen Füßen raus aus der Wohnung, damit mich auch niemand darin sieht. Mein Vater ist im Fitnessstudio und die Mädels im Zimmer. Bevor ich in den Aufzug steige, hebe ich das Kleid an. Wer weiß, was hier neu auf den Boden vergossen wurde, egal wie frisch es hier endlich wieder riecht. Ich sprühe mich noch einmal mit meiner 15ml Version des Bodysprays ein, sende ein kleines Stoßgebet in den Himmel und oh Gott, das schrille Läuten des Aufzugs hat mein enterisches System noch nie so in Gang gesetzt. Ich halte mir meinen kribbelnden Bauch mit der einen Hand, halte mit der anderen das Kleid immer noch angehoben. Er steht vor der Tür. Er steht wortwörtlich vor der Tür. Scheiße, damit habe ich echt nicht gerechnet. Ich stocke nicht, obwohl ich am liebsten wieder in den Aufzug rennen will und wie eine Gestörte kreischen und meinen Kopf gegen den Spiegel des Aufzugs rammen möchte. Ich will ihm nicht zeigen, was all das hier in mir auslöst, strecke deshalb meine Schultern durch, lasse meinen Blick noch kühler werden und stoße schon fast die Tür auf. Ich will eigentlich gar nicht stehen bleiben, sondern direkt zur Beifahrertür gehen, aber irgendetwas hält mich auf. Vielleicht das simple Benehmen. Ich erwidere seinen Blick, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Hoffentlich erröte ich nicht. Ich kenne es nur von ekelhaften älteren Männern oder Versagern vom Bahnhof, wenn sie mich begaffen, aber sein gefasster Blick gleitet nur ein einziges Mal über mein Gesamtbild und trotzdem prickelt es an meinem gesamten Rücken.

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Durch den Weg deines Herzes
RomanceEin Leben, das sie so nie führen wollte und nichts dagegen tun kann, außer zu warten. Ein Abend, an dem sie von etwas mitbekommt, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Ein Angebot, das all ihre Wünsche in Erfüllung gehen lassen wird, wenn sie der B...