Kapitel 43

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"Oh mein Gott!" Azad! Ich renne auf ihn zu, überfordert mit seinem katastrophalen Zustand. Er blutet. Er hält sich die Hand an seine linke Schulter gepresst. Azad sieht überhaupt nicht gut aus. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Hätte ich es doch in Erwägung gezogen, das FSJ oder Pflegepraktikum während der Ausbildung in der Notfallambulanz zu machen, wüsste ich wahrscheinlich besser, wie ich das hier handhaben soll. Meine Hände zittern, als ich sie unwissend unter seine Arme lege. Azad atmet röchelnd. Sind seine Rippen gebrochen? "Was ist passiert?" Ich Idiotin! Es ist offensichtlich, was passiert ist. Ich bin aber überfordert. Ich war gerade noch aufgebracht und jetzt unterdrücke ich jegliche Hysterie. "Ich habe deine Blumen im Auto vergessen", murmelt er. Ich bringe ihn gleich um! "Komm!" Ich schaue mich überfordert im Flur um, entscheide mich dann, ihn in das Gästebad zu bringen, als er dann aber ins Wohnzimmer lenkt. "Gleich. Ich habe die Ehre, dein erster Patient zu sein." Mein erster Patient? Ich habe keine Ahnung! Ich habe mir vieles angelesen und einiges schon gesehen, aber ich habe noch nie ein Polytrauma behandelt! Vor lauter Angst, dass er noch zusammenbricht, umschlinge ich ihn von der Seite, um ihn bestmöglich zu entlasten, bis er seine Waffe auf den Tisch wirft und sich seufzend auf das weiche Sofa fallen lassen kann. Und jetzt? Wo sind Jamal und die anderen? Und wieso schmunzelt dieser gestörte Mann jetzt?!

"Was?", blaffe ich. Das ist überhaupt nicht lustig! "Du siehst süß aus, wenn du besorgt bist." "Azad, ich schlage dich gleich!" Wie kann er in diesem Moment noch schwärmen? "Gleich, bitte. Es wäre lieb, wenn du den ersten Wandschrank im Essbereich öffnest." Azad nickt verdeutlichend zur Wand mit den schwarzen Holztüren, zu denen ich eile. Die erste Tür ist doch die Linke, oder? Ich öffne sie, finde ein ganzes Lager an medizinischen Utensilien. "Bring bitte zuallererst eine Flasche NaCl mit Infusionsbesteck und Ständer." Ich habe noch nie einen Zugang gelegt. Woher soll ich das wissen? Ich schaue mit großen Augen zu ihm. Ich muss handeln! Warum bin ich aber so emotional plötzlich? Ich habe oft während des FSJ und Praktikums leidende Menschen gesehen und es hat mich nicht überfordert oder ist mir nahegegangen! Ich reiße mich zusammen, nehme all das Aufgesagte und auch Kompressen, Antiseptikum und ganz spontan, weil es mein Blickfeld kreuzt, Wundnahtstreifen, trotte angestrengt zu ihm und lasse alles aufs Sofa fallen. Handschuhe! Gott, wie blöd bin ich eigentlich? Wäre das eine Situation im Medizinstudium, hätte ich mich bis auf die Knochen blamiert. Ich renne wieder zurück zum offenen Schrank, reiße eine komplette Packung Nitrilhandschuhe in S raus sowie mehrere NaCl-Spülspritzen. Mein Herz schlägt zu schnell und zu fest. Azads Gesicht ist mit Schrammen bedeckt. An seiner geschwollenen Unterlippe klebt getrocknetes Blut. "Ein gutes Spiel, zum Reinkommen, Schneeflocke. Wir beginnen mit der Anamnese." "Azad", warne ich ihn, doch er lacht nur leise auf, beginnt aber augenblicklich zu husten. Mir wird heiß.

"Sag mir jetzt endlich, was passiert ist." Ich zerreiße das schon ramponierte Hemd an seinem Arm auf, taste eines der hervorstechenden Venen an seiner Armbeuge ab. Ich habe einen Spritzenschein. Ich kann das. "Eigentlich ein gewöhnlicher Tag", setzt er an, als ich die Handschuhe anziehe und seine Armbeuge desinfiziere. Eigentlich hätte ich mir auch meine Hände desinfizieren müssen! "Weiter." Ich reiße das Infusionsbesteck aus der Verpackung, drücke den Einstichdorn durch die Membran der Infusion und drehe an der Rollklemme. "Du machst das sehr gut, Sch-," "Rede, habe ich dir gesagt!" Ich drehe durch mit diesem Mann! Er lässt sich ja nicht einmal von den Schmerzen beim Lachen abbringen. Und mein gestörter Körper kribbelt deshalb! Die Infusion ist fertig, die Rollklemme wieder zugedreht. Jetzt fehlt nur noch der Zugang. Ich habe das noch nie gemacht. Blut habe ich das eine oder andere Mal abgenommen - an mir selbst. "Nimm die grüne Kanüle. Ich muss mein Auto reinigen lassen." Scheiße, wie viel Blut hat er verloren und wieso kann er so entspannt sein? "Wie viel Blut hast du verloren?" "Eine gute Menge. Sobald es zum Adrenalinabfall kommt, wird mir schwindelig. Aber in deinem süßen Outfit wird mein Herz noch lange und schnell pumpen." Ich bringe ihn um! "Die nächste Verletzung wird durch meine Hände folgen!" Seine Augen rollen nach hinten, als er den Kopf in den Nacken legt. Scheiße! Azad! Mein Herz! "Avin", stöhnt er auf. Meine Augen weiten sich, als er seine Hüften fürs neue Aufsetzen anhebt. Was zum?! Will mich dieser Mann komplett verarschen? Ich bringe ihn um! "Mach mich nicht verrückt. Ich kann meine Schulter nicht richtig bewegen und über dich herfallen." Genug! Ich rede nicht mehr mit ihm. Dieser Mann spinnt! Arbeiten. Einfach pragmatisch arbeiten. Ich mache mit meiner amateurhaften Arbeit weiter, kann direkt neu desinfizieren, weil mehr als 15 Sekunden vergangen sind und lege endlich den Stauschlauch um seinen Oberarm.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt