Kapitel 10

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Es ist jetzt eine Woche vergangen und überraschenderweise kam er kein einziges Mal zu meiner Arbeitsstelle. Nicht, dass ich es wollte, aber es hat mich überrascht. Wenn ich ehrlich bin, war mein erster Gedanke sofort, dass er dieses Angebot nicht mehr will, auch wenn mir ein Paket mit neuen Air Force und Jeans geliefert wurde. Ich habe sogar seine Nummer eingespeichert, um ihn zu fragen, ob er das Angebot doch nicht mehr möchte. Ich gehe immer vom Schlimmsten aus, um mich vorzubereiten und immer wieder habe ich genau das im Kopf. Ich stelle mir vor, wie ich ihm begegne und er mir sagt, dass er es sich anders überlegt hat. Deshalb wage ich es auch nicht, ihm zu schreiben, obwohl es alles Mögliche sein kann. Vielleicht hat er keine Zeit. Vielleicht ist er weg. Vielleicht ist er krank. Ich weiß es nicht und so gerne ich es auch wissen würde, kann ich mich nicht melden. Ich ... keine Ahnung. Wenn die Möglichkeit, meine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen, platzt, dann will ich emotional vorbereitet sein, auch wenn ich noch nicht zugestimmt habe. Aber wenn man mal ehrlich ist, rede ich ja nicht umsonst mit ihm. Auch wenn ich misstrauisch bin, freue ich mich endlich mehr Kontakt zur Außenwelt zu haben. Ich hatte mir auch die Zeit genommen, mich mental auf das Treffen mit seiner Familie vorzubereiten, aber vielleicht war das doch zu früh. Keine Ahnung. Ich will nicht zu sehr daran denken, auch wenn meine Gedanken beim Präparate-Anfertigen immer zu ihm schweifen. Ich mache wieder Extrastunden in der Histologie. Diese Woche sind viele Biopsien eingeliefert worden und ich schneide gerade ein Paraffinblock mit Tumormaterial. Morgen übernehme ich dann höchstwahrscheinlich die Schnittherstellung für die Leiche eines 80-Jährigen. Es ist eine Niere und Niere bedeutet, dass ich wieder herzförmige Sammelrohre unter dem Mikroskop finde.

Ich wechsele Lord I Need You von Kanye West zu Alone Again von The Weeknd. Wir bräuchten einen kleinen Handstaubsauger für die Paraffinreste. Ich kriege jedes Mal einen halben Zusammenbruch, wenn ich den Rest zusammenkehre und er dann durch die Luft wirbelt, wenn ich ihn entsorgen will. Als ich mich einmal dann gebückt habe und mir alle Stifte aus der oberen Kitteltasche geflogen sind und Paraffinstücke an sich kleben hatten, war ich kurz davor, das Mikrotom kaputtzumachen. Seit dem Tag trage ich meine Stifte immer in der unteren Kitteltasche. So! Ich habe jetzt endlich einen schönen Schnitt, kann ihn ins Wasserbad legen und es auf den Objektträger ziehen - die einzige Aufgabe, die ich hier wirklich mag. Schaffe ich noch eine Färbung? Ein Blick auf meine Handyuhr sagt mir, dass es gleich schon 22:00 Uhr ist! Ich muss nach Hause! Der Histo-Chef kommt schon überrascht mit dem Blick auf die Wanduhr rein. "Avin, mach Schluss. Du kannst nicht bis nach Mitternacht hier ackern!", meint er besorgt. "Passt schon", murmele ich durch die Musik meiner Kopfhörer durch, die ich jetzt pausiere. Dr. Steinberger putzt für mich das Mikrotom frei, während ich die ganzen Schnitte lagere. "Ich schätze deine Hilfe sehr, Avin. Du bist eine große Entlastung." "Gerne." Ich lächele leicht. Dass ich es nur tue, um meiner Realität zu entfliehen, muss er nicht wissen. Vielleicht kann er es sich ja herleiten. "Schau Mal! Ich war letztens auf einer Fortbildung für Zytologie und wir haben uns Präparate angeschaut. Schau dir die Langerhans-Inseln mal an." Er tippt lächelnd auf seinem Handy herum und zeigt mir dann das Bild des Präparats. Ich schmunzele sofort bei der herzförmigen Ansiedlung, auch wenn es mir in der Seele brennt, auch als Ärztin jemals eine Fortbildung zu machen.

"Echt süß." "Oder? Ich musste sofort an dich denken. Das wird die neue Geburtstagkarte für meine Frau!", lacht er. Passenderweise ist seine Frau Allgemeinmedizinerin und Diabetologin. "Denkst du, wir können uns mal Handstaubsauger zulegen für die ganzen Wachsreste? Ich drehe noch durch mit diesen Dingern!" Dr. Steinberger seufzt nur. "Das können wir bei der nächsten Sitzung ansprechen. Dieses Mal kriegt die Mibi ja einen schönen MADLI-TOF und wir schicke neue Färbemöglichkeiten. Wir können froh sein, dass die alte Leitung weg ist. Bevor du angefangen hast, gab es einen anderen Chef und er hat an jeder Ecke gegeizt. Die Hämatologie wird jetzt auch die POX kriegen." Dr. Steinberger stellt die Mülltonne zurück und läuft mit mir aus dem Labor, als ich meine Jacke anziehe und den Kittel aufhänge. "Jetzt, mit der neuen Kooperation, stehen uns echt viele Chancen zu. Mehr Angebote, stärkeres Mithalten mit der Konkurrenz und, und, und. Uns werden in Zukunft Färbungen angeboten, die ich seit Jahren nicht mehr gemacht habe. Das füllt mich mit Nostalgie", lächelt er. Ich nicke halb lächelnd zurück. Immer, wenn ich einem Arzt bei seiner Leidenschaft zuhöre, versinke ich in Selbstmitleid. Ich will doch nur das. Mehr nicht. "Wir sehen uns dann morgen, Avin. Schönen Abend noch." Ich winke, weil er in die andere Richtung geht. Vermutlich ins Büro. "Dir auch. Bis morgen." Ich kann von Glück sprechen, so nette Chefs zu haben. So kommt mir mein Alltag wenigstens für einen Moment nicht zu eintönig vor.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt