Kapitel 67

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Ein Jahr später.

Wenn ich meine Ehe rückblickend betrachte, hätte ich niemals gedacht, dass sich innerhalb eines Jahres so viel abspielen würde, was ich mir nicht einmal im Geringsten vorstellen konnte. Ich wollte nur meine Ruhe, die ich zwar für eine gewisse Zeit bekam, es jedoch gravierend abnahm. Fand ich es schlimmer als mein vorheriges Leben? Tatsächlich nicht. Ich hatte Angst, Sorge, anfangs sogar Zustände, die man als Wahn betiteln könnte, aber zusammenfassend betrachtet, fühle ich kaum etwas. Der Höhepunkt war das Attentat auf mich, doch das war persönlich nicht das Schlimmste. Es war die kurze Schwangerschaft. Ich habe nach Jahren wieder intensiv gefühlt und das nicht positiv. Ich hatte Angst. Ich hatte pure Wut in mir. Kaum hat Azad es gebeichtet, wollte ich nur noch weg und beten, dass ich kein Kind gebäre. Ich hätte es nicht geschafft. Es hätte keine richtige Liebe bekommen und es reicht mir schon, dass Azad oft darunter leiden muss. Es wäre keine Heilung für mich und würde nur weiteren Schaden verursachen und ich möchte keine weitere Person mit meinem Leid belasten. Das ist auch der Grund, weswegen ich das Attentat rückblickend als Erleichterung empfinde. Aus dem Grund, dass ich Azad endlich meine Liebe verbal gestehen konnte. Aus dem Grund, dass ich das Kind verloren habe, das ich niemals mit mentaler Stabilität und emotionaler Wärme hätte großziehen können. Aus dem Grund, dass Azad wirklich sein Versprechen gehalten hat und es seitdem keine Probleme mehr gab.

Nun sitze ich hier am Ufer, wenig entfernt von unserem Strandhaus in Sevilla. Meine Haut ist gebräunt und weist kleine, blasse Flecken auf, die vom Salzwasser kommen. Meine Haut wurde mit der Zeit schlimmer, doch durch das regelmäßige Reisen und der Psychotherapie beginne ich langsam zu heilen. Azad war sich sehr unsicher, als er es angesprochen hat. Die ersten Tage fragte er immer, ob ich immer noch psychologische Bücher lese. Als ich es bestätigte, aber hinzufügte, dass mir jedoch die Lust und Kraft dafür fehlt, fragte er, ob ich jemals das Gefühl hatte, eines der Bücher würde mir helfen. Azad, das sind Bücher voller Fakten und Erklärungen. Keine Ratgeber. Daraufhin hat er eine Woche nichts mehr dazu erwähnt, nur um die darauffolgende Woche weitere Fragen zu stellen. Es war mehr als nur offensichtlich, dass ihm etwas auf dem Herzen lastete, also habe ich aufgefordert, dass er endlich sprechen soll. Zugegeben: Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte und habe ihn dementsprechend trocken angeschaut. Sagst du mir, was du davon hältst? Ich habe nach seiner Frage immer noch geschwiegen, antwortete daraufhin jedoch mit: Gar nichts.

Oftmals habe ich immer noch das Gefühl, dass mir die Therapie nichts bringt. Vielleicht ist es die falsche Therapeutin, vielleicht brauche ich einfach mehr Zeit. Ich kommuniziere seit dem Zwischenfall definitiv besser. Anfangs habe ich noch gezögert, aus Angst, ich würde enttäuscht werden, doch Azad fiel mir nahezu vor die Füße für jedes Kommunizieren. Ich fühle mich manchmal schuldig, weil ich ihm nicht den Kinderwunsch erfüllen kann. Wir sind uns jedoch beide einig, dass es egoistisch und falsch wäre, wenn wir ein Kind mit meinem Leid belasten würden. Ich bin nach wie vor abgeneigt von der Vorstellung. Mir entweicht ein tiefes Seufzen, als ich meinen Zeigefinger durch den Sand schlängeln lasse. Ich habe viel aufzuarbeiten. Alles kommt, wie es kommen muss. "Genug gebadet?" Ich lächele sanft, als mich der Schatten von hinten überragt. "Geh weg. Du stiehlst mir die Sonne." "Nicht doch, Schneeflocke. Die Sonne sitzt vor mir." Alter Schleimer. Ich lächele zufrieden, als er mir einen Kuss auf die Wange schenkt und gebe ihm ebenfalls einen. Anfangs fand ich es ein wenig komisch, gar ungewohnt, obwohl wir schon intim waren, doch mit der Zeit hat es sich zu etwas entwickelt, worauf ich nie wieder verzichten kann. Mit einem Riesenbaby wie Azad ist es auch ziemlich schwer, keine Affektionen zu geben. Wenn er nichts bekommt, nimmt er es sich.

"Hier, Pistazieneis." "Füttere mich. Ich bin zu beschäftigt." Mein Körper ist viel zu entspannt und in einer gemütlichen Lage, als dass ich mich jetzt bewegen könnte. "Was immer du wünschst, Schneeflocke." Ich öffne meinen Mund und darf zufrieden nicken, als ich das Eis schmecke. Salzig und mehr ins Herzhafte gehend als süß. "Gut?" Ich nicke. "Ich will auch." "Probier." Ich bekomme noch einen Löffel angereicht, nur um daraufhin seine Lippen auf meinen zu spüren. Meine Augenbrauen heben sich überrascht. Azad küsst mich sehr ungestüm und möchte gar nicht von mir ablassen, als er sich langsam über mich aufbaut. "Das Eis, Azad", murmele ich. "Schmeckt himmlisch", raunt er zurück. Azad möchte mich überhaupt nicht loslassen. Seine Hand schlingt sich um meinen Nacken, um mir jegliche Flucht zu verbieten und mich langsam auf den Sand zu legen. "Wir sind nicht im Haus", warne ich ihn. "Der Bereich gehört zum Haus", korrigiert er mich summend, ohne seine Lippen von mir nehmen zu wollen. Ich verdrehe meine Augen, quieke jedoch, als er mir warnend in die Seite pikst. "Verdrehe deine Augen nicht und genieße es." Wie hat er das bemerkt? Ich pruste, kreische daraufhin, als Azad mich rittlings auf seinen Schoß zieht und ergebend seufzt, als er sich von mir löst.

"Nicht dramatisch werden." "Ich fordere einen Kuss." "Bekommst du, wenn ich mein Eis gegessen habe." Ich muss gestehen, dass es in Kombination mit dem Kuss besonders gut schmeckt. "Dann erfülle ich der Geschäftsführerin ihren Wunsch. Immerhin möchte ich mir den Deal nicht verscherzen." Er nimmt die Schüssel wieder zur Hand und hält mir eine weitere Portion hin. Ich vermisse unsere Katzen, aber in Dilnias Obhut wird es ihnen gut gehen - wahrscheinlich mit zwei Kilo mehr auf den pelzigen Rippen. "Möchtest du später ein wenig durch die Stadt? Wir können in eine Bar und uns ein wenig durch die Speisen probieren." "Können wir machen." Ich bin an der Reihe, Azad ein wenig vom Eis zu geben, schmiere dabei jedoch absichtlich ein wenig des Eis an seine Lippen, um diese dann zu küssen. Seine Grübchen bilden die Kirsche auf der Sahnehaube. "Mit dem Eis kommt anscheinend eine Nachspeise her", schmunzelt er. Ich küsse ihn erneut, schiebe ihm daraufhin ein wenig Eis in den Mund, um ihn daraufhin ein drittes Mal zu küssen. "Ich scheine meine Geschäftsführerin mit dem Eis außerordentlich zufriedengestellt habe." Ich summe und nicke lächelnd. Azads Lächeln wird sanfter. Sobald ich auch nur ein wenig Zuneigung zeige, schmilzt Azad dahin. Man könnte sich niemals vorstellen, dass ein Mafiamitglied, der sehr viel Blut an seinen Händen kleben hat, derart sensibel sein kann. Manchmal sehe ich Tränen in seinen Augen glitzern, sobald ich Fortschritte mache. An seinem Geburtstag konnte er sich seine Tränen nicht verkneifen, als ich ihm zum Geburtstag gratulierte und ihm sagte, dass ich ihn liebe.

"Willst du mir erzählen, was ihr bei der letzten Sitzung besprochen habt?" Azad ist unfassbar neugierig und hält sich jedes Mal mehrere Tage zurück, sobald ich die Sitzung verlasse. Bloß zu blöd, dass man ihm seine Ungeduld anmerkt, doch ich lasse ihn gern ein wenig leiden, bevor ich rede. "Ich habe eine hartnäckige Rüstung", schmunzele ich. "Zwar bin ich reflektiert, aber sobald ich in einen Konflikt gerate, neige ich immer noch zum destruktiven Selbstschutz." Azad nickt, wobei er sanft und mitfühlend lächelt. "Aber ich bessere mich", merke ich mit angehobenem Zeigefinger an. "Meine Geschäftsführerin wächst durch Konstruktivität. So etwas findet man nicht oft. Ich habe da das große Los gezogen." Er wird das Schleimen niemals seinlassen, doch ich mag es. Ich liebe es. Es lässt mich immer schmunzeln und verlegen lächeln. Manchmal werde ich sogar rot deswegen. "Ich bin viel zu nachtragend und projiziere immer noch, auch wenn es besser geworden ist." "Das ist dir nicht zu verübeln, Schneeflocke. Du bist damit groß geworden." "Ja", murmele ich. Manchmal rebelliere ich innerlich immer noch gegen solche intimen Gespräche mit Azad, doch ich verdränge ist, weil mir bewusst ist, dass es wichtig für meine Heilung ist. Nur weil sich etwas besser anfühlt, heißt es nicht, dass es tatsächlich besser ist. Wiederum heißt es nicht, dass sich schlecht anfühlende Taten wirklich schlecht sind.

"Warum muss eigentlich nur ich in Therapie?", frage ich schroff. Es ist ja nicht so, als würde neben mir kein blutliebender, soziopathischer Mann sitzen, der dennoch die Sensibilität eines Schmetterlingsflügels besitzt, sobald es um mich geht. Azad lacht leise in sich hinein, doch statt mir zu antworten, isst er genüsslich mein Eis. "Antworte." "Du bist meine Therapie, Schneeflocke." Daraufhin hält er mir wieder den Löffel mit dem Eis hin. "Meine Obsession und meine Therapie. Der Fokus liegt ganz auf dir. Heilst du, heile auch ich." Azad tippt auf die Narbe seiner linken Schulter, die ich an meinem Geburtstag genäht habe. "Du bist schon sehr gut dabei, Avin. Ich bin unfassbar stolz auf dich." Es kostet mich alle Mühe, meine Gesichtsmuskeln nicht zu verziehen, als ich diese Worte registriere. Für einen Moment steigen mir kleine Tränen auf, nur um wieder zu versiegen. Es ist alles gut. Ich atme tief durch. Azad zieht mich zwischen seine Beine, weil er bemerkt, dass ich doch ein wenig Privatsphäre für meine Emotionen benötige. Es tut unfassbar gut, so schwer es sich auch anfühlt. Azad ist mein Anker. Er hat mich nie losgelassen, egal wie oft ich ihn von mir stoßen wollte. "Wollen wir ein wenig ins Wasser? Die Sonne geht unter." Ich nicke und schiebe den Eisbecher zur Seite, um mit ihm ins Meer zu steigen, bis das Wasser unsere Oberschenkel bedeckt. Unsere Arme lösen sich nicht, sondern drücken uns nur noch fester aneinander. Ich spüre es. Ich spüre ganz klar die Zufriedenheit hier mitten im Meer mit ihm an meiner Seite. Es wird alles wieder gut - etwas, dass ich nicht einmal in Gedanken aussprechen konnte.

Anfangs musste er sich mit Mühe durch mein Herz bahnen, um die Akzeptanz zu finden, doch jetzt kann auch ich es von mir behaupten: Ich habe es geschafft.

Durch den Weg meines Herzes.

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E N D E

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