Kapitel 19

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Ich bin ihm dankbar für sein Verständnis. Er ist ein erwachsener Mann, der wahrscheinlich selbst so einiges durchmachen musste und die entsprechende Reife und Reflexivität besitzt, um nachvollziehen zu können, dass ich meine Zeit brauche. Es ist schön, dass er sich für mich eingesetzt hat, dass es auch vorerst keine Hochzeit gibt. Das sollte ich ihn wissen lassen. "Ich fand es gut, dass du mir wegen der Hochzeit geholfen hast. Danke." Ich halte immer noch seine Hand und ich drücke sie auch nachträglich. Ich bin ihm wirklich dankbar deshalb. Seine eisblauen Augen verharren auf unseren Händen. Seine freie Hand ist an seine Brust gezogen. "Willst du überhaupt keine Hochzeit?", fragt er mich. Seine Stimme wirkt sanfter, leiser, aber auch unsicherer. "Möchtest du eine?", stelle ich die Gegenfrage, weil ich vermute, dass sein Ton etwas mit der Frage zu tun hat. Sein Nicken bestätigt es mir. Azad weicht meinem Blick nachdenklich aus. Seine Kiefermuskeln stechen einen Moment beim Schlucken hervor. "Aber wenn du nicht willst, kann ich dich nicht zwingen." Eigentlich sollte ich erleichtert sein, dass mir die Entscheidung zusteht, ob ich nun eine Hochzeit haben möchte oder nicht, aber gerade habe ich wirklich Mitleid mit ihm. Er tut alles für mich. Er ist wirklich geduldig und zeigt Verständnis und er gibt sich schon mit den leichtesten Liebkosungen zufrieden. Azad wirkt wie ein Mann, der gerne viel liebt und geliebt werden möchte.

"Wir schauen, was sich ergibt", setze ich an. Jetzt schaut er zu mir und ich weg. Auf unsere Hände. "Aktuell kann und will ich nicht. Wir haben ja noch die Hennafeier und Nikah." "Du willst also eine Hennafeier?", fragt er mehr überrascht als glaubend. Ich bin kein großer Fan von Feten und zucke deshalb mit meinen Schultern. "Wenn du es willst." "Willst du es denn?", stellt er mir skeptisch die Gegenfrage, woraufhin meine Schultern zucken. Seine große Hand drückt meine. "Wenn du es nicht willst, müssen wir es nicht tun." "Wäre doch schön", flüstere ich. Es wäre schön, wenn meine Mutter nach langer Zeit endlich wieder glücklich wäre und mal nicht aus Trauer Tränen vergießen müsste. Es ist doch schön, seine Tradition zu bewahren und Erinnerungen entstehen zu lassen. Es wird schon nicht zu schlimm sein. "Es würde mich freuen. Meine ganze Familie würde es freuen." "Meine auch", murmele ich. Sein Daumen, der meinen Handrücken streichelt, tröstet mich ein wenig. "Wir haben ja Zeit", füge ich hinzu. "Haben wir, Schneeflocke. Fühl dich in deiner Freiheit nicht bedrängt. Möchtest du dir Kleider kaufen für das Standesamt oder Nikah?" Ich verneine es. Ich liebe die kurdischen Gewänder, so selten ich sie auch trage. "Ich bleibe bei den Xeftans." "Meine Mutter wird dich für dein traditionelles Verhalten lieben. Sie hat dich immer wieder angeschaut, als wir im Wohnzimmer waren." Meine auch. Sie sind sich wirklich ähnlich. Dabei bin ich eigentlich gar nicht so traditionell gewesen früher. Im Gegenteil sogar, aber mit dem Alter kommt die Reife und der Realisation, wie schön die eigene Kultur doch ist. Vor allem der Schmuck und die Kleider der kurdischen Frauen.

"Ziehst du für die Nikah eines der blauen Xeftans an?" Wieso blau? Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ich wieder zu ihm sehe. "Ich dachte eher an weiß." "Wieso nicht lieber für das Standesamt?" "Aber ... wieso nicht für die islamische Heirat?" Azad zuckt mit seinen Schultern. "Standesamt ist unpersönlicher als Nikah. Wir können unser Haus so schön dekorieren, wie wir wollen und wieder mit Farben arbeiten wie heute." "Und du möchtest Blau?" Er nickt. "Es würde mich ehren, wenn du Blau tragen würdest." "Wieso ausgerechnet Blau? Ist es deine Lieblingsfarbe?" In seinen Augen blitzt etwas auf. "Sie gefällt mir an dir." Aber er hat mich noch nie in Blau gesehen außer in dem dunkelblauen T-Shirt. "Hast du ein gewisses Blau im Kopf?" "Ich habe dir viele Blautöne ausgewählt. Such dir eines davon aus. Je heller, desto besser." Er ist ziemlich spezifisch, was seinen Wunsch angeht und ich spüre, dass es einen Grund hat. "Sag mir wieso." "Du willst es wirklich wissen, Schneeflocke." Azad drückt meine Hand. Es lässt mich aus meiner passiven Schale fallen, als er mich näher an sich zieht. Es könnte jederzeit einer hereinkommen! Mein Kopf gleitet schon panisch zur Tür, wird aber von seinen kühlen Fingern wieder zu sich gedreht. Wir sind uns zu nah für das volle Haus. Mir wird wieder warm. Es kribbelt wieder überall auf meiner Haut.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt