Kapitel 15

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Ich komme mir wie ein Arschloch vor, weil ich ihn meide. Ich komme mir wie eine Idiotin vor, weil ich nur halbherzig reagieren kann, wenn er vor meiner Arbeitsstelle auftaucht. Ich will nicht apathisch sein, wenn er mit mir spricht, aber ich kann nicht anders, als seine Treffen abzulehnen, weil ich nach Hause muss. Es herrscht das blanke Chaos. Ich werde den Samstag auch nicht freiwillig aushelfen, weil dieser verfickte Junkie durch den Koksentzug aggressiv wird und die Spannung zwischen meinen Eltern deshalb nur weiter zunimmt. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin komplett angespannt. Jeder kleinste Krach macht mich rasend. Wenn ich das Gegacker meiner verfickten Kollegin höre, will ich durchdrehen und sie so laut und heftig beleidigen, dass sie weint. Ich bin gestresst. Ich schlafe nicht richtig, weil dieser verfickte gottlose Junkie mitten in der Nacht wie ein unzivilisierter Spastiker den Kühlschrank lautstark plündert und in seinem Rausch irgendetwas vor sich hin grummelt. Ich hasse ihn. Ich wünsche ihm den Tod. Ich will, dass er mitten in der Nacht einen Schlaganfall erleidet, damit ich mich nach dem Morgengebet bei Allah für den Tod endlich bedanken kann. Meine Gedanken füllen sich mit immer mehr Negativität und ich meide es deshalb, mit meiner Mutter zu reden, weil ich sie sonst nur mit meiner barschen Wahrheit verletzen würde. Ich bin am Ende. Ich führe meine Gebete immer unkonzentrierter aus, weil mich plötzlich immer die Welle an Wut einhüllt. Meine Gedanken drehen sich nur um diesen Junkie und wie ich ihn am liebsten verletzen würde. Wenn ich meine Mutter und ihm im Wohnzimmer streiten höre, während ich bete, kann ich direkt von vorne anfangen. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Ich halte das nicht mehr aus. Ich will meine Mutter anschreien, weil sie ihn reinlässt. Ich will sie für alles beschuldigen, weil sie Mitschuld hat, aber ich will sie nicht verletzen und ich will ihr nichts vorwerfen, wenn ich verstehe, dass das eine toxische Beziehung ist. Sie ist gefangen in diesem Strudel und ich weiß nicht, wie ich ihr sonst helfen soll, außer ihr immer wieder zu sagen, dass sie ihn nicht hereinlassen soll. Dass sie ihn ignorieren soll. Sie soll Musik hören, damit sie das Klopfen an der Tür nicht hört. Sie soll sich daran gewöhnen und lernen, dass er nicht immer reinkommen darf, aber ich werde immer müder davon. Seit Jahren sage ich es ihr. Ich versuche es ihr zu erklären, aber sie kriegt es nicht hin. Was soll ich noch tun? Ich rufe immer die Polizei, ich rede mit ihr. Ich lasse diese Ratte nie rein, wenn ich die Möglichkeit habe, aber sie hat nicht einmal die Disziplin oder feste Psyche, ihn vor der Tür stehenzulassen. Manchmal wünsche ich mir, sie wäre länger im Krankenhaus geblieben, nur damit ich länger meine Ruhe haben darf. Nur einmal in diesen ganzen Jahren, in denen es schlimmer geworden ist, in denen ich älter geworden bin und immer mehr verstanden habe, was los ist. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich bin müde. Ich bin kaputt. Ich kann nicht schlafen. Mein Leben ist eine Aufeinanderreihung von Unzufriedenheit. Mein Vater klagt wieder über Schmerzen und möchte reisen, um Ruhe zu finden bei dem Stress. Meine Mutter will nicht, dass er verreist und hat Angst, dass sich wieder ein Tumor entwickelt haben könnte. Mein Tremor setzt wieder ein.

Ich schnalze gereizt mit der Zunge, als meine rechte Hand zuckt. Meine zweite Fraktion ist dadurch verrutscht, aber ich habe keine Kraft, eine neue Platte anzuzüchten. Es wird sowieso vereinzelte Kolonien geben. Ich setze die Platte nach Beenden der dritten Fraktion wieder auf den Deckel, muss bei der Bewegung zucken, aber wenigstens kontaminiere ich nichts. Ich bemühe mich, so einhändig wie möglich zu arbeiten, aber auch das hält meinen Arm nicht davon ab, zu zucken. Solange die muskuläre Anspannung aufgrund seelischer Belastung bleibt, wird es nicht aufhören. Wird er mich heute wieder abholen? Ich würde mich freuen, wirklich! Aber ich kann verstehen, wenn er sich in seinem Tun nicht geschätzt fühlt. Ich bedanke mich zwar immer und ich bemühe mich, seine Fragen nicht allzu elliptisch zu beantworten, aber man merkt mir auf hundert Metern an, dass ich keine Kraft und Lust habe. Ich will nicht einmal später in die Patho gehen, weil mir die Energie fehlt. Ich will nicht nach Hause, aber ich will auch für den Fall der Fälle zu Hause bleiben. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Das fünfminütige Färben der Präparate kommt mir heute so lang vor. Die zwei Minuten wollen nicht vergehen, damit ich die Lugolsche Lösung abspülen kann. Nur noch fünfzehn Minuten und ich kann gehen. Ich ignoriere diese verdammt penetrante, neugierige Laura neben mir. Ich habe noch nie in meinem Leben jemand so aufdringliches gesehen wie sie. Sobald ich mit meiner Chefin rede, springt ihr großer Kopf auf und sie muss mich fragen, was ich gefragt habe. Ich konnte mich oft genug beherrschen, aber ich habe oft genug bemerkt, wie meine Wut doch durch meine Fassade gerissen ist, falls sie mich doch zu sehr genervt hat.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt