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„Sie sind noch nicht lange an der Front, nicht wahr, Euer Gnaden?"

Die Stimme, die so plötzlich hinter ihm erklang, ließ ihn herumfahren. Vor ihm stand ein Sergeant mittleren Alters in der typischen Gymnastiorkauniform mit dem obligatorischen Stehkragen und den steifen Schulterklappen. Sie war am Schnitt der Bauernkleidung orientiert und unterschied sich damit von den Waffenröcken der Offiziere, wie auch Nikolai einen trug. Er musterte den Mann und erinnerte sich daran, dass er selbstbewusst und autoritär wirken musste, um ernst genommen zu werden. Er bemühte sich, es abfällig klingen zu lassen, bevor er mit strenger Stimme zurückgab: „Was willst du damit sagen?"

Hatte er seine Gefühle so offen zur Schau gestellt, dass sein Untergebener dachte, er besitze erst wenig Erfahrung? Wie beschämend. Der Sergeant schlug die Augen nieder. „Nichts, Euer Gnaden. Ich dachte nur ..."

Was dachtest du?", zischte Nikolai, wütend darüber, dass er seine Schwäche nicht besser verborgen hatte. „Dass ich ein unerfahrener Grünschnabel bin? Ich diene seit 1914 an der Front, wie kannst du es wagen, mich zu beleidigen?"

Dem Sergeant wich alle Farbe aus dem Gesicht und er starrte Nikolai aus großen, angsterfüllten Augen an. Unwillkürlich zuckte sein Blick zu der Peitsche, die an Nikolais Koppel hing. Die meisten Offiziere zögerten nicht, sie bei den geringsten Verfehlungen zu gebrauchen. Nikolai hatte sie noch kein einziges Mal benutzt und er gedachte nicht, dies zu ändern. Nun, das musste ja niemand wissen. Es konnte nicht schaden, wenn die Mannschaften und Unteroffiziere Angst vor ihren Vorgesetzten hatten, gerade wenn diese wie Nikolai noch recht jung waren. Er war fünfundzwanzig und damit vermutlich halb so alt wie der Soldat vor ihm.

„Ich...ich bitte vielmals um Verzeihung, ich wollte Sie gewiss nicht beleidigen, Euer Gnaden."

„Dann nimm deine Männer, sorge dafür, dass der Schaden an den Stellungen behoben wird und sieh zu, dass du verschwindest. Ich hoffe, du wagst es nicht, mich noch einmal ungefragt anzusprechen."

„Jawohl, Euer Gnaden!"

„Und Sergeant?"

„Euer Gnaden?"

„Lass Wachen aufstellen und die Leichen nach Nahrung und Munition durchsuchen. Danach schaff sie hier heraus, der Gestank ist ja nicht auszuhalten. Hier wird alles blitzeblank gemacht, hast du das verstanden?"

Der Sergeant stand stramm und salutierte. „Klar und deutlich, Herr Leutnant."

„Danach werden wir den Deutschen mal einen Besuch in ihren Stellungen abstatten. Scheinbar sind sie in der Unterzahl, sonst hätten sie längst auf uns geschossen."

„Wie Sie befehlen."

Damit drehte sich der Sergeant um und stiefelte von dannen. War es wirklich nötig gewesen, den Mann so zurechtzuweisen?, meldete sich seine innere Stimme. Nikolai schüttelte den Kopf. Er wollte ihr jetzt kein Gehör schenken. Stattdessen richtete er sein Augenmerk auf die sechzig Köpfe seiner Truppe. Die ausgemergelten, erschöpften Gesichter seiner Männer zeigten einen seltsamen Ausdruck, den Nikolai in letzter Zeit häufiger bei ihnen beobachtet hatte und den er nicht so recht deuten konnte. War es Missbilligung? Verärgerung? Geringschätzung? Eine Mischung aus allem? Er konnte es nicht sagen, er wusste lediglich, dass es ihm ein unangenehmes Kribbeln über das Rückgrat jagte. Ehe er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, vernahm er, wie jemand seinen Namen rief. „Leutnant Orlow!"

Ein hagerer junger Soldat mit geröteten Wangen und Sommersprossen auf der Nase schälte sich aus der Traube seines dicht zusammenstehenden Zuges und salutierte vor ihm. „Verzeihung, Euer Gnaden, sind Sie Leutnant Orlow?"

Nikolai ging nicht darauf ein. Konnte sich dieser Junge nicht vernünftig vorstellen? „Was erlaubst du dir, Soldat?", herrschte er ihn an. „Ich erwarte eine anständige Meldung!"

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt