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Als sie die Spitze des Hügels endlich erreichten, war Nikolais Kehle vor Durst wie ausgetrocknet und eine verräterische Schwäche hatte sich in seine Beine geschlichen, sodass er fürchten musste, jeden Moment umzukippen. Von Hohenstein legte die Hand an den Stamm einer mächtigen Eiche und tat so, als würde er sich die Rinde besehen, aber Nikolai war sicher, dass er sich abstützte. Er musste krank sein. Nach dem heutigen Tag glaubte er seinen Verdacht bestätigt.

Es dauerte eine Weile, bis Nikolai wieder zu Atem gekommen war und er musste gestehen, dass sich der kräftezehrende Aufstieg gelohnt hatte. Auf dem Hügel thronte eine Burgruine, deren uraltes, zerklüftetes Gestein von Flechten überwuchert war. Windzerzauste Kiefern, Eichen und Buchen rahmten die Mauerreste ein, die selbst im Zustand ihres Zerfalls noch mächtig und erhaben wirkten. Der Duft des sich anbahnenden Sommers erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem ganz speziellen Geruch, der diesem Ort anhaftete. Es roch nach altem, modrigem Gemäuer, Vergänglichkeit und Zerfall.

Eine Schar Krähen flatterte aufgeschreckt aus den Baumkronen, als Nikolai, von Hohenstein und die Wachsoldaten näherkamen. Nikolai konnte nicht anders, als zu staunen. Sein Künstlerherz schlug schneller, als er sich vorstellte, wie diese Burg vor vielen Jahrhunderten wohl einmal ausgesehen haben musste. Ihre Reste ließen darauf schließen, dass sie einst sehr imposant gewesen sein musste. Welche Meister, welche Künstler von Architekten waren es gewesen, die sie errichtet hatten? Waren sie von derselben Leidenschaft erfüllt gewesen wie er, wenn er tanzte? Waren sie auch manchmal von Selbstzweifeln geplagt gewesen, hatte auch sie gelegentlich krankhafter Ehrgeiz zerfressen oder hatten sie eher die Einstellung des Majors zur Kunst geteilt?

Nikolai beobachtete, wie von Hohenstein die Hand ausstreckte, langsam und ehrfürchtig, bevor er andächtig über das Mauerwerk fuhr.

„Ich wünschte, ich könnte ihn fühlen, den groben Stein, die Grasbüschel, die in den Ritzen sprießen, die Kälte der Mauer", eröffnete der Major so unvermittelt, dass Nikolai eine Weile brauchte, bis er antwortete.

„Es könnte helfen, die Handschuhe auszuziehen."

Er stotterte nicht mehr. Lag es an dem Ort, der eine beruhigende Wirkung auf ihn ausübte oder daran, dass die Wachsoldaten abseits standen und er mit von Hohenstein mehr oder weniger allein war? Welch absurder Gedanke. Eigentlich hätte ihn genau das zum Stammeln bringen sollen, so wie es vor kurzer Zeit noch der Fall gewesen war.

Kaum merklich verzog der Major die Lippen, ging hingegen nicht darauf ein.

„Diese Burg erinnert mich an jemanden, der einst ebenso strahlend und kraftvoll war wie sie, bevor sich das Rad der Zeit zu drehen begann und ihn dem Zerfall übergab. Er war ein leuchtendes Vorbild, aber dann wurde er zur vergessenen und abgeschobenen Ruine."

Von Hohenstein sah ihn nicht an, es wirkte eher, als würde er zu dem Bauwerk sprechen. Dennoch war Nikolai sicher, dass dieser Jemand der Major selbst war.

„Am liebsten komme ich nachts, bei Vollmond her", fuhr sein Peiniger leise fort, sodass nur Nikolai ihn verstehen konnte. War das von ihm gewollt? „Wenn ich diesen Ort im silbrigen Mondlicht erblicke, dann sehe ich nicht mehr nur Zerfall, sondern Ästhetik, selbst wenn sie in Dunkelheit gewandet ist."

Endlich wandte der Major Nikolai das Gesicht zu und sah ihm direkt in die Augen. „Sie erinnert mich daran, dass selbst aus Ruinen Schönes hervorgehen kann."

Nikolai war sich nicht mehr sicher, von wem er da sprach. Von sich selbst? Aber warum sah er ihn dabei an? Merkte er, wie kaputt er innerlich war? Warum sollte ihn das kümmern? Es war doch sein Plan, ihn zu zerstören oder nicht?

„Hören Sie auf damit", wisperte Nikolai. Er war sich darüber im Klaren, dass es eine Spur verzweifelt klang.

„Womit?"

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now