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Eine Tür, die ins Schloss fiel, ein Schlüssel, der herumgedreht wurde, anschließend Schritte, die sich entfernten. Dann war es still. Und dunkel. Wieder einmal. Nikolai ließ den Blick durch seine Zelle schweifen. Lediglich durch die Ritzen und kleinen Löcher in den hölzernen Wänden fielen schmale Streifen Licht, in denen Staubteilchen tanzten.

Ansonsten bot auch dieser Raum nicht viel an visuellen Reizen. Es gab eine Pritsche an der Wand, einen Eimer in der Ecke und Spinnweben an der Decke. Nikolai setzte sich auf sein befehlsmäßiges Bett und betrachtete die gegenüberliegende Wand. Er konnte sich wieder bewegen, seine Glieder hatten aufgehört zu zucken und vermutlich hätte er sogar sprechen können.

Er wartete.

Worauf wusste er nicht. Wie lange? Auch das war ihm schleierhaft. Würden sie ihn bald wieder zum Verhör abholen? Bestimmt. Es ging um eine Offensive, von der sie wahrscheinlich als die ersten, wenn nicht sogar als die einzigen erfahren hatten, weil er zu nachlässig gewesen war, sich der dämlichen Befehle zu entledigen und weil er einfach nicht aus seiner eigenen Haut konnte. Er hatte sich ja unbedingt an Iwan rächen müssen, statt die Klinge einfach wegzuwerfen. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Hätte er das Ganze einfach auf sich sitzen lassen, hätte er jetzt keine solchen Unannehmlichkeiten. Was sie wohl mit Iwan taten? Töten sie ihn? Sicher, er hatte ihm einen Denkzettel verpassen wollen, aber das wollte er nicht.

Er beschloss, sich auf sein eigentliches Problem zu fokussieren. Es war logisch, dass die Deutschen um jeden Preis mehr Informationen über die Brussilow-Offensive erfahren wollten, immerhin könnte ihr Verlauf kriegsentscheidend sein. Ein Sieg über das Zarenreich würde Deutschland und seinem Verbündeten Österreich-Ungarn die lang ersehnte Gelegenheit bieten, ihre Truppen aus dem Osten abzuziehen und an die Westfront nach Frankreich zu verlegen, wo sie dringend benötigt wurden.

Ungläubig stellte er fest, dass der Lauf der Geschichte in diesem Moment womöglich von ihm abhing, davon, ob und wie viel er preisgab. Er war ehrlich. Hätte er gekonnt, hätte er dem Major sofort alles gesagt, was er wusste. Er wollte hier lebend herauskommen, er hatte noch so viel vor mit seinem Leben und im Prinzip war es ihm egal, wer diesen irrsinnigen Krieg gewann, solange er seine Ruhe hatte. Er überlegte sogar, ob er den Wachmann bitten sollte, ihm etwas zum Schreiben zu bringen, da er sich wieder bewegen konnte, doch irgendetwas ließ ihn zögern.

Er schloss die Augen und mit einem Mal wusste er, was es war. Erstaunlich scharf sah er die Gesichter seiner Einheit vor sich, hauptsächlich junge Männer, die Träume hatten wie er, die nicht sterben wollten, weil sie Ziele hatten, etwas, das sie erreichen wollten. 

Er hatte sich ihnen nie sonderlich verbunden gefühlt, doch in diesem Augenblick erkannte er, dass er ihnen etwas schuldig war, nachdem er sich oft genug ungerecht ihnen gegenüber verhalten und einige von ihnen in den Tod geschickt hatte, nur weil er zu feige gewesen war, die Aufträge selbst auszuführen. Allen voran musste er an Pjotr denken, der nur deshalb gestorben war, weil er sich in seiner Selbstsuch selbst gerettet hatte, ohne Rücksicht auf seine Männer zu nehmen.

Ihm war bewusst, dass er kein guter Mensch war, doch wie sollte er jemals einer werden, wenn er immer nur nach seinem eigenen Vorteil handelte, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen?

Dennoch ... Es wäre so einfach, dieser Situation zu entfliehen. War es überhaupt klug, sich das Ziel zu setzen, ein guter Mensch zu werden? Sollte er Folter und möglicherweise den eigenen Tod riskieren, nur damit andere leben konnten? Innerlich lachte Nikolai auf. Was waren das für Gedanken? War das nicht absolut schwachsinnig und unklug von ihm? 

Außerdem war er nicht sicher, ob er sich an alles erinnern konnte, was im Hauptquartier besprochen worden war. Er erinnerte sich daran, dass die Offensive am 4. Juni in Galizien, Bukowina und Wolhynien beginnen sollte, doch nähere Informationen wollten sich nicht in sein Bewusstsein drängen. Er befürchtete, wenn er das wenige, was er wusste, preisgab, würden sie ihm nicht mehr glauben, dass er keine Ahnung von all dem hatte.

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt