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Licht, blendendes, gleißendes Licht. 

Das war das erste, was Nikolais zurückkehrendes Bewusstsein flutete. Reflexartig schloss er die Augen, die er probehalber einen Spalt geöffnet hatte. Widerliche Gerüche, die er ihm nur allzu bekannt waren, holten ihn Stück für Stück zurück in die Realität. Es war der Gestank nach Erbrochenem, Urin und Blut, versehen mit einer sauren Note. 

Geräusche, von denen er vor dem Krieg bezweifelt hätte, dass Menschen zu ihnen fähig waren, ließen ihn glauben, sich auf einem Schlachtfeld zu befinden, direkt nach einer Kampfhandlung. Er hörte Männer vor Schmerzen stöhnen, wimmern und weinen und gelegentlich ertönten markerschütternde Schreie. Er musste selbst verwundet worden sein. In seinem Kopf hämmerte und dröhnte es, als sitze jemand mit einem Hammer darin und schlage ihm beständig gegen die Schädeldecke. In seinem Magen wühlte Übelkeit und wenn er einatmete, versetzte es ihm einen heftigen Stich in die Brust. 

Vorsichtig bewegte er die Finger. Sie waren noch da. Auch seine Beine und Füße folgten den Befehlen seines Gehirns. Alles da, wo es sein sollte. Erstaunt stellte er fest, dass er auf etwas Weichem lag. Er befühlte es und kam zu dem Schluss, dass es Stoff sein musste. Stoff auf einem Schlachtfeld? Sollte er nicht nassen, kalten Schlamm unter sich spüren?

Der Bunker. Das Trommelfeuer.

Einzelne Erinnerungsfetzen spukten durch seinen Geist, doch sie waren ineinander verwoben und verdreht, sodass er sie nicht alle zu fassen bekam und sie schon gar nicht in eine sinnvolle Reihenfolge bringen konnte.

Blinzelnd schlug er die Lider auf und zwang seine Augen, sich an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen. Zuerst sah er verschwommen, bis seine Umgebung Formen und Konturen annahm. Direkt über ihm erstreckte sich ein Tonnengewölbe, das von einem einzigen, riesigen Gemälde verziert war. Die Gottesmutter Maria saß mit gefalteten Händen auf einem Thron, während Gott und Jesus ihr eine goldene Krone aufs Haupt setzten, überwacht von einer Engelsschar und einer überdimensionierten Friedenstaube.

Eine Kirche?

Warum befand er sich in einem Gotteshaus, noch dazu in einem katholischen? Er war doch orthodox. Staunend glitt sein Blick an den reich verzierten Säulen hinab, die das Kirchenschiff stützten und in einem Boden endeten, der von Verwundeten übersät war. Manche lagen in Feldbetten, andere, wie er, hatten weniger Glück gehabt und lediglich einen Strocksack auf dem kalten Marmor zur Verfügung.

Was er dann sah, glich einem Engel. Ein elegantes, zierliches Wesen mit einer Haube auf dem Haar schlängelte sich durch die Reihen der Verwundeten.

Eine Frau.

Nikolai konnte es nicht fassen. Es war zwei Jahre her, dass er zuletzt eine gesehen hatte. Seine ausgehungerten Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen, ihre weichen, anmutigen, fließenden Bewegungen, ihre fachmännischen Handgriffe, wenn sie einen Patienten zudeckte, ihm zu trinken gab oder seine Stirn befühlte. Alles an ihr saugte er regelrecht auf, um sich später daran zu erinnern, wenn er wieder nichts anderes mehr sah als Tod, Dreck und eintöniges Grau.

Ihre Blicke trafen sich, sein Herz stolperte. Sie hatte ihn bemerkt. Leichtfüßig schwebte sie heran, diese himmlische Erscheinung und sie lächelte. Sie lächelte! Wann hatte er zuletzt jemanden so lächeln gesehen, so freundlich, so aufrichtig, so frisch? Er wollte sich aufstützen und stemmte die Ellenbogen in den Strohsack, doch ein stechender Schmerz, der seinen gesamten Körper überzog, zwang ihn zurück in eine liegende Position.

„Ruhig, ganz ruhig", beschwichtigte sie ihn. Sie hatte eine helle, melodische Stimme, doch sie brachte ihn zum Stutzen. Warum sprach sie Deutsch mit ihm? Mit einer Mischung aus Verwunderung und Entzücken starrte er in ihr junges Gesicht mit den großen blauen Augen, dem sanft geschwungenen Mund und der hellen, zarten Haut.

„Sie müssen sich schonen", mahnte sie ihn und zog die Decke zurecht, die bei dem Versuch, sich aufzusetzen, von seinen Schultern gerutscht war.

„Wo bin ich?"

Die Worte kamen nur mühsam über seine aufgesprungenen Lippen und waren so leise, dass er sich fragte, ob sie ihn gehört hatte. Sie blinzelte verständnislos. Gehört hatte sie ihn also, aber warum antworte sie nicht?

„Tut mir leid, ich verstehe kein Russisch", gab sie zu, was Nikolai noch mehr verwunderte.

„Wo bin ich?", wiederholte er also auf Deutsch.

„Im Lazarett."

„In einem ... deutschen?", schlussfolgerte er.

Sie nickte. Ein Gefühl, das er nicht deuten konnte, beschlich ihn. War es Angst? Erleichterung, dass er zumindest nicht mehr an der Front war? Eine Mischung daraus? Was würde mit ihm geschehen? Er war ein Kriegsgefangener, das stand fest. Behandelten die Deutschen ihre Gefangenen gut? Folterszenen tauchten vor seinem inneren Auge auf, doch bevor sie ihn in Panik versetzen konnten, verdrängte er sie. Er musste abwarten, spekulieren hatte keinen Zweck.

„Was ist geschehen?"

Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Das weiß ich nicht. Hier sind so viele Verwundete ..."

In einer umfassenden Geste schloss sie die zum Lazarett umfunktionierte Kirche ein. Zum ersten Mal sah er, dass die Frau nicht nur strahlend, jung und schön war, sondern dass der Krieg auch ihr zu schaffen machte. Vorher war ihm nicht aufgefallen, dass ihre Augen gerötet waren, vermutlich vor Müdigkeit und dunkle Schatten darunter lagen, stumme Zeugen der Strapazen, denen sie ausgesetzt war.

Es geht uns allen gleich, dachte Nikolai. Wir sitzen im gleichen Boot, egal welches Geschlecht, welche Nation, welcher Stand. Wir sind Verbündete, die sich gegenseitig töten, für die irrsinnigen Machtspiele alter Männer. Wir schlachten uns ab, weil ein verrückter Serbe das österreich-ungarische Thronfolgerpaar erschossen hat. Tausende unschuldige Leben für das zweier Aristokraten.

Die Übelkeit wurde schlimmer, alles drehte sich, bis er nicht mehr wusste, wo oben und wo unten war. Gerade noch rechtzeitig hielt ihm die Krankenschwester eine Schüssel hin, in die er sich würgend und hustend erbrach. Seine Kehle brannte und seine Augen tränten. Geschwächt sank er zurück in sein provisorisches Bett und wischte sich mit einem Tuch, das ihm die Schwester reichte, den Mund ab.

„Sie haben eine Gehirnerschütterung", eröffnete sie ihm. „Dazu drei gebrochene Rippen und zahllose Prellungen. Ich hole den Arzt."

Wenig später erschien ein kleiner, dünner Mann mit in der Mitte gescheitelten Haaren und einer angenehm ruhigen Stimme. Zusammen mit der Erschöpfung lullte sie ihn derart ein, dass er nur halb mitbekam, wie er ihn untersuchte und ihm erklärte, was passiert war.

„Unsere Truppen haben Ihre Stellungen eingenommen und Sie in einem verschütteten Bunker gefunden. Man ließ Sie leben, weil Sie als einziger Offizier nicht zu Tode gekommen sind und brachte Sie hierher. Im Vergleich zu dem, was Ihnen widerfahren ist, sind Ihre Verletzungen beinahe lächerlich. Sobald Sie kräftig genug für eine lange Zugfahrt sind, wird man Sie nach Deutschland bringen."

Nikolai war froh, dass der Stabsarzt ein paar Brocken Russisch sprach. Sein Schuldeutsch mochte zum Überleben reichen, aber längere oder anspruchsvollere Konversationen konnte er damit nicht führen.

„Alle tot?", wiederholte er.

„Ja. Sie hatten großes Glück."

Er wartete darauf, dass die Meldung ein besonderes Gefühl in ihm auslöste, aber er wusste nicht, wie er die Neuigkeit bewerten sollte, er konnte sich einfach an nichts Konkretes entsinnen. Krampfhaft versuchte er, sich daran zu erinnern, was kurz vor dem Einsturz des Bunkers passiert war, aber er kam nicht darauf. Es war wie ein schwarzer Hohlraum in seinem Gedächtnis, der nichts preisgab und den er nicht mit Inhalt füllen konnte. Er wusste nur, dass sie unter Artilleriebeschuss gestanden hatten, dass er Angst verspürt hatte und dass es schrecklich laut gewesen war. Das war alles. Müdigkeit überströmte ihn. Er bekam noch mit, wie die Schwester einen frischen Verband um seinen Kopf anlegte, bevor ihn der Schlaf in seine Arme zog.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now