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„Bübchen, he."

Die geflüsterten Worte rissen Nikolai aus dem Schlaf. Blinzelnd schlug er die Augen auf und sah, wie Iwan den Kopf durch die Öffnung in der Wand steckte, die durch das entfernte Brett zustande kam.

Sofort schwang er die Beine aus dem Bett und kroch zu ihm heran.

„Mein Wachsoldat war eben hier, er hat etwas herausgefunden."

Augenblicklich schlug Nikolais Herz schneller. „Ja?", hauchte er hoffnungsvoll.

„Nichts Weltbewegendes, aber das Wappen, das du beschrieben hast, ist das Familienwappen der Hohenzollern. Dein Major von Hohenstein entstammt einem der bedeutendsten Hochadelsgeschlechtern des Reiches. Kaiser Wilhelm ist ein Hohenzollern."

Nikolai schnappte nach Luft. Ihn war klar gewesen, dass sein Peiniger von Adel sein musste, so edel und befehlsgewohnt er auftrat, doch dass er aus einer Dynastie von Kaisern kam, das überraschte ihn.

„Er ist mit dem Kaiser verwandt?", hakte Nikolai ungläubig nach.

„Über sehr viele Ecken, ja."

„Was ist mit der römischen Zahl?"

„Sie bedeutet 202."

202. Nikolai überlegte, versuchte, einen Zusammenhang aus dem, was er bereits wusste herzustellen, aber er kam nicht darauf, was es damit auf sich haben könnte.

„Was könnte das bedeuten?"

Iwan zuckte mit den Schultern. „Zusammenreimen musst du dir deinen Mist schon selbst, Bübchen."

Nikolai beschloss, das zu überhören.

„Und sonst? Weiß dein Informant noch etwas?"

„Nur so viel: du bist nicht der Einzige, der vermuten tut, dass mit von Hohenstein etwas nicht stimmt. Otto, der Wachsoldat, hat mir erzählt, dass die deutschen Soldaten untereinander ebenfalls munkeln tun, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht."

Nikolai horchte auf. „Inwiefern?"

„Von Hohenstein ist ein hochdekorierter Offizier. Er hat seine Truppen mehr als einmal zum Sieg geführt, nicht hinter einem Schreibtisch, sondern an vorderster Front und er hat drei Orden. Er ist ein Kriegsheld. Man tut sich fragen, was ein Mann wie er in einem Gefangenenlager zu suchen hat, ein solches Talent tut auf das Schlachtfeld gehören."

Nikolai kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein Mann aus dem höchsten Adel, ein hochdekorierter Offizier, ein Held verhörte ihn. Es war in der Tat seltsam, dass er das tat, statt seine Truppen anzuführen, wenn er darin so gut sein sollte. Gleichzeitig kam Nikolai nicht umhin, den schmerzhaften Stich des Neides in seiner Brust zu fühlen. Von Hohenstein war das, was er nie geschafft hatte: ein fähiger Offizier, ein Mann, der etwas im Leben erreicht hatte, der ein gewisses Ansehen genoss und zu dem andere aufsahen. Gewiss, er hatte es bis zum Solisten gebracht, aber was nützte ihm das, wenn er – abgesehen vom Blauen Vogel – immer nur unbedeutende Nebenrollen ergattern konnte, die ihn nie aus der Menge herausstechen ließen?

Unwillkürlich kamen ihm die Worte seines Ballettmeisters in den Sinn: Dein Tanz wirkt nicht leicht, du willst es zu sehr. Du musst echte Emotionen zeigen, keine gekünstelten. Deine Arme mögen zwar lang sein, aber sie sind nicht lang genug. Du hast ein ansehnliches Gesicht, aber deine Haare sind zu dünn, das wirkt auf der Bühne nicht. Du bist schlank, aber du brauchst mehr Muskeln. Niemand will einen unmännlichen Tänzer.

Du bist nicht gut genug.

Willst du das ausgleichen? Dann sei selbstsüchtig. Nehme dir das, was du willst, auf unehrliche Weise, denn anders wirst du es nie schaffen.

Der schwarze SchwanOnde histórias criam vida. Descubra agora