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Auf die Planung der Offensive folgte ein Souper mit erlesenen Speisen und edelsten Weinen. Nikolai wagte kaum, das Essen anzurühren, obwohl er sich komplett ausgehungert fühlte. Die Verpflegung an der Front war schlecht und er wusste, dass es den einfachen Soldaten genauso erging, wenn nicht schlimmer. Es kam immer wieder zu Versorgungsengpässen für die Armee, Nahrungsmittel waren knapp. Er schämte sich für seinesgleichen, dass sie sich ihre ohnehin oftmals dicken Wänste vollschlugen, während die Männer an der Front verhungerten. 

Dieser gesamte Stand ist eine Schande für Russland, dachte er angewidert. Es spielte keine Rolle für ihn, dass er selbst ein Angehöriger der Oberschicht war. Sein Adelsstand hatte ihm in seinem Leben mehr Probleme als Vorteile bereitet, vor allem als er seinen Eltern erklärt hatte, dass er nicht bestrebt war, sein Erbe als ältester Sohn anzutreten, sondern dass er sein Leben dem Ballett widmen wollte. Sie waren so beleidigt gewesen, dass sie ihn aus der Familie ausgeschlossen hatten. Hier, in der Armee, erwies er ihm zum ersten Mal echte Vorteile. Darüber freuen konnte er sich kaum. Diese Vorzüge waren ungerechter Natur.

Immer wieder schielte er sehnsüchtig auf seine Taschenuhr und überlegte, ob es unhöflich wäre, einfach aufzustehen. Welch dummer Gedanke. Natürlich wäre es das und er konnte sich keine weitere negative Aufmerksamkeit leisten.

Erleichtert atmete er auf, als General Brussilow das Abendessen für beendet erklärte und sich einige Offiziere dem Kartenspiel widmeten. Nikolai schritt erhobenen Hauptes aus dem Raum.

Als er auf den Flur hinaustrat, entdeckte er einen großen Spiegel. Er blieb davor stehen.

Ein Mann, den er nicht mochte, blickte ihn daraus an. Ganz automatisch hatte er die erste Fußposition eingenommen. Achtzehn Jahre beim Ballett hatten ihn mehr als offensichtlich geprägt. Er war groß, aber nicht zu groß und sein Körper wies genau die gewünschten Proportionen auf: Lange, endlos wirkende Beine, schmale, filigrane Hände, feingliedriger, aber nicht schmächtiger Körperbau, eleganter Schwanenhals. Sein Gesicht wirkte trotz der auffallend hohen, spitz zulaufenden Wangenknochen und der ausgeprägten Kieferpartie fein, um nicht zu sagen edel. Es würde alle Voraussetzungen erfüllen, um als ansehnlich gelten zu können, wäre da nicht der verbissene Zug um seinen Mund, die ständig gefurchte Stirn, die ihm erste kleine Falten beschert hatte und das viel zu dünne, zu einem Seitenscheitel gekämmte Haar, dessen stumpfes Dunkelblond seiner hellen Haut nicht gerade zur Zierde gereichte. Sein Antlitz wirkte durch die Strapazen des Krieges fahl und erschöpft, wodurch seine Augen einen besonders starken Kontrast bildeten. In dem dunklen Braun loderte ein ungesunder, fanatisch anmaßender Ehrgeiz, der seine größte Stärke und seine größte Schwäche war.

Obwohl seine Uniform maßgeschneidert war, fühlte er sich fremd darin. Es war, als hätte er sie jemandem gestohlen, zu dem sie viel besser gepasst hatte und er sich die Frechheit erlaubte, sich als dieser Jemand auszugeben.

Er war kein Soldat.

Er würde nie wie einer denken und handeln können. Schluss damit, schalt er sich selbst. Du hast dich freiwillig gemeldet, also wirst du das Beste daraus machen und versuchen, aufzusteigen. Es gibt keine halben Sachen. Ganz oder gar nicht. Da sich die Frage nach dem „gar nicht" nicht einmal stellt, wenn du nicht als Deserteur hingerichtet werden willst, erübrigt sich alles Weitere. Augen zu und durch, so wie du es dein Leben lang getan hast.

Nikolai nickte seinem Spiegelbild zu, um seinen Gedanken mehr Ausdruck zu verleihen. Anschließend wandte er sich ab und suchte den Raum auf, in dem die Lagebesprechung stattgefunden hatte. Sein Weg führte ihn zu dem Vogelkäfig, in dem der leuchtend gelbe Kanarienvogel sein trostloses Leben absaß. Bevor er sich auf der Récamière, die daneben stand, niederließ, rückte er die Kissen zurecht, die jemand in Unordnung gebracht hatte. Erst dann nahm er Platz. Der Vogel hatte sich beruhigt. Er saß still auf seiner Stange und musterte Nikolai mit schiefgelegtem Kopf.

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt