10.

18 2 9
                                    

Er saß wieder an seinem Bett.

Wie beim letzten Mal hatte Nikolai ihn kommen hören, weil er gar nicht erst gewagt hatte, einzuschlafen. Nikolai betrachtete das Totenschädelgesicht des Mannes, das ausschließlich aus Wangenknochen zu bestehen schien. Im fahlen Licht wirkte seine Haut noch blasser, beinahe wächsern. Irgendwie sah er nicht sonderlich gesund aus. Wäre er eine weniger eindrucksvolle Erscheinung, hätte Nikolai geglaubt, er sei krank.

„Guten Morgen, der Herr. Wohl geruht? Eher nicht, nicht wahr?"

Nikolai war so verwundert darüber, dass er zum ersten Mal, seit er ihn nachts heimsuchte, etwas gesagt hatte, dass er nichts erwidern konnte.

„Hat es Ihnen wieder einmal die Sprache verschlagen? Bemühen Sie sich nicht, Sie wissen, dass ich Sie durchschaut habe."

Instinktiv rutschte Nikolai so weit weg von diesem Mann wie möglich.

„W...Was...s...s...soll das?"

Abermals durchbohrte ihn der Major derart durchdringend, dass Nikolai sich außerstande sah, seinen Blick zu erwidern.

„Sagen Sie mir, was ich hören will und ich werde Sie in Frieden lassen. Sie haben mein Wort."

Nikolai stieß einen verächtlichen Laut aus. Er sollte auf das Wort eines Mannes vertrauen, der ihn um jeden Preis brechen wollte? Zu gerne hätte er ihm das gesagt, aber er wagte es nicht. Er war ein verdammter Angsthase.

„Ach ja und versuchen Sie nie wieder, mich anzugreifen, Leutnant."

Er sprach so ruhig, dass man die Drohung in seiner Stimme beinahe hätte überhören können.

„Ein...ein Tier, das man in d...d...die Ecke drängt, greift auch an", stammelte Nikolai und stand auf, weil er es nicht mehr aushielt, neben dieser Person zu sitzen.

Der Major tat es ihm gleich.

„Sie sind aber kein Tier. Sie sind Offizier der zaristischen Armee."

Endlich wagte Nikolai es, von Hohensteins Blick zu erwidern. Er sah ihm direkt in die Augen und unterdrückte sein Schaudern, bevor er mit bebender Stimme zurückgab: „D...dann behandeln Sie mich auch so."

„Sobald Sie sich entsprechend verhalten, bin ich bereit, darüber nachzudenken, Leutnant", gab der Major scheinbar gelassen zurück. „Solange Sie kein Mann von Ehre sind, werden Sie nicht als solcher behandelt, aber die Hoffnung habe ich schon aufgegeben, als Sie das erste Mal zitternd vor mir hingestottert haben."

„Ehre u...und d...d...der Wunsch zu überleben, v...vertragen sich n...n..."

Das letzte Wort wollte nicht heraus. Er versuchte es mehrere Male, aber das „N" zählte zu seinen absoluten Stolperfallen. Welche Ironie, dass er ausgerechnet Nikolai hieß.

Der Major winkte ab. „Nicht nötig, dass Sie weitersprechen. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Das zeigt mir, dass ich mit meiner Annahme richtig liege. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Überleben, Dinge, die zu etwas Höherem führen als triviale animalische Instinkte. Sie sind eines Offiziers nicht würdig, Leutnant."

Schuldgefühle nagten an Nikolai. Abermals musste er an Pjotr denken und an all die anderen Männer, die aufgrund seines mangelnden Ehrgefühls gestorben waren. Schließlich tippte sich der Major an die Schirmmütze, wie er es stets zu tun pflegte und trat aus der Tür hinaus.

Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen.

„Sie sollten wissen, dass die Informationen, die sie zurückhalten, der einzige Grund sind, warum ich mich in Ihrer ehrlosen, elenden und verabscheuungswürdigen Nähe aufzuhalten gezwungen sehe. Beten Sie, dass Sie es wert sind."

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now