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Zurück im Lager, wurde zu seiner Überraschung niemand aus der Eskorte damit betraut, ihn in seine Zelle zurückzusperren, sondern Otto.

Nikolai folgte ihm zügigen Schrittes. Er wollte so schnell wie möglich weg von dem Major.

Bevor sie den Bereich, der die Gefangenenbaracken einschloss, durch das Tor betraten, blieb Otto plötzlich stehen, sah sich um, packte Nikolai an den Schultern und drückte ihn blitzschnell an die kalte Mauer eines Gebäudes, in dessen Schatten sie vor neugierigen Blicken geschützt waren.

Erschrocken schnappte Nikolai nach Luft. „Was soll das?"

Abermals warf Otto einen gehetzten Blick über die Schulter, griff in den Beutel, den er bei sich trug und hielt ihm einen Stapel Kleider entgegen. Es war eine deutsche Uniform. Nikolai riss die Augen auf. Was hatte das zu bedeuten?

„Ziehen Sie das an, schnell."

„Warum? Was ist hier los?"

„Sie hatten recht, von Hohenstein bewohnt ein Quartier im Lager. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir dort eindringen können. Sie sind rasiert und zusammen mit der deutschen Uniform wird man Sie auf den ersten Blick für einen Wachsoldaten halten."

Nikolai starrte auf die Kleider, die ihm Otto immer noch auffordernd entgegenhielt und überraschte sich selbst, als er zögerte.

„Leutnant, was haben Sie? Machen Sie, bitte, wir müssen uns beeilen."

Nikolai sah Otto fest an. „Ich kann nicht."

Das aufgeregte, einen Hauch vorfreudige Blitzen in den Augen des Deutschen verschwand. „Warum nicht?"

„Ich habe eingesehen, dass das Ganze keinen Sinn hat."

Otto seufzte leise. „Da hat Iwan etwas angedeutet, aber sind Sie sicher, dass das der Grund ist? Oder liegt es in Wahrheit daran, dass Sie beginnen, so etwas wie Zuneigung für diesen Mann zu empfinden?"

Unwillkürlich zuckte Nikolai zusammen und wandte den Blick ab. Er fühlte sich, als wäre er ein kleiner Junge, den sein Vater gerade bei einer Dummheit ertappt hatte. Statt zu antworten, fixierte er seine Stiefelspitzen und den Staub, der sich darauf festgesetzt hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn er kannte die Antwort selbst nicht. War es so? Begann er, von Hohenstein zu mögen, ausgerechnet den Mann, der für sein Leid verantwortlich war? Nein, das war zu krank, um wahr zu sein.

„Verstehe", murmelte Otto, nahm sein Krätzchen ab und fuhr sich mit der Hand durch sein karottenfarbenes Haar, bevor er Nikolai einen eindringlichen Blick zuwarf. „Hören Sie, Leutnant, glauben Sie wirklich, er ist grundlos nett zu Ihnen und geht mit Ihnen aus reiner Herzensgüte spazieren? Ich muss Sie enttäuschen. Ich kenne von Hohenstein zwar nicht, aber ich halte ihn für einen Mann, der niemals etwas ohne Hintergedanken tut. Das muss Teil seines Plans sein. Er versucht, Vertrauen zu Ihnen aufzubauen, damit Sie ihm sagen, was er hören will. Vermutlich hat er begriffen, dass Isolation bei Ihnen nichts bewirkt."

„Natürlich glaube ich das nicht", raunte Nikolai zurück, schärfer, als er  beabsichtigt hatte. Es stimmte, es war ihm die ganze Zeit über klar gewesen, dass der Major nicht grundlos freundlich zu ihm war, dass mehr dahinterstecken musste, dass er mit ihm spielte, ihn benutzte. Dennoch, ein winziger Teil von ihm hatte versucht, diese Tatsache zu verdrängen, ein Teil, der sein Künstlerherz beherbergte. Dieser hatte begonnen – auch wenn er es sich nicht einmal selbst eingestehen wollte – so etwas wie Achtung für von Hohenstein zu empfinden. Nicht für den Soldaten, den Mann, der ihn seit Wochen einsperrte, sondern für den Maler, für den Künstler, der ihm bisweilen gar nicht so unähnlich war.

„Warum zögern Sie dann?", riss Otto ihn aus seinen Gedanken. Nikolai focht einen inneren Kampf zwischen Moral und Eigennutz – wie so oft. Und wie so oft entschied er sich für letzteres. Er nahm den Kleiderstapel entgegen und begann, sich umzuziehen. Was sollte es schon schaden, wenn er sich in von Hohensteins Quartier umsah? Vielleicht fand er etwas Nützliches und dann könnte er immer noch entscheiden, ob er die Informationen gegen ihn verwenden wollte oder nicht.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now