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„Guten Morgen, Leutnant, wie geht es Ihnen?"

Nikolai hatte ihn bereits erwartet und so war er nicht erschrocken darüber, dass der Major wieder auf seine gruselige Art und Weise mitten in der Nacht an seinem Bett erschienen war und auf ihn herabstierte. Langsam setzte sich Nikolai auf und zwang sich, seinen Peiniger anzusehen. Er hatte sich vorgenommen, ihm von nun an die Stirn zu bieten. Er würde es tun, er würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen, obwohl er spürte, wie er schon wieder zu zittern begann.

„W...wie geht es denn Ihnen?", fragte er so fest er konnte.

Sie starrten einander an. Die Szene schien wie eingefroren. Keiner sprach, keiner blinzelte.

„Erstaunlich, wie Sie den Mut finden können, mir eine Frage zu stellen, nach allem, was geschehen ist", antwortete der Major schließlich. Nikolai schlug das Herz bis zum Hals und er musste die Hände hinter dem Rücken verschränken, um ihr Zittern zu verbergen. Trotzdem würde er fortfahren.

„W...wir...sprachen d...d...doch über Ehre, Major. Ich h...habe mir Ihre Worte zu Herzen genommen."

„Torheit hat nichts mit Ehre zu tun, Leutnant und Sie sind ein Tor, wenn Sie es wagen, sich mir zu widersetzen."

„Das tue ich n...n...nicht. Ich frage Sie lediglich nach Ihrem Be...Befinden."

Von Hohenstein betrachtete ihn aufmerksam, als versuche er zu ergründen, was Nikolai vorhatte. Es war gut, wenn er unschlüssig war, vielleicht würde ihn das aus dem Konzept bringen.

„Was glauben Sie wohl, wie sich ein Soldat dieser Zeiten fühlt?"

Nikolai lächelte in sich hinein. Das war die perfekte Antwort.

„Schuldig vielleicht?", hakte er nach und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der Major kaum merklich zusammenzuckte. Der Moment währte nicht lange und er fing sich sofort wieder, doch Nikolai hatte es genau gesehen.

„Weshalb sollte ich mich schuldig fühlen?"

„Weil w...wir töten."

„Ganz recht. Ich töte für meinen Kaiser und für mein Vaterland, das bedroht wird. Das ist wahrlich kein Grund, Schuldgefühle zu verspüren."

„F...finden Sie nicht? S...Sie töten Tausende für einen einzigen Mann?"

Der Major verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere, die behandschuhte Hand wie immer auf den Spazierstock gestützt, die andere locker auf dem Griff seines Säbels liegend.

„Ich töte nicht nur für diesen einen Mann, Leutnant, sondern alles, wofür er und mein Land, das Deutsche Reich, aber allen voran Preußen stehen: Für Wohlstand, Disziplin, Strenge, Pflichtbewusstsein, Gottgefälligkeit und Tradition."

Nikolai war froh, dass der Major so langsam sprach, deshalb hatte er keine Probleme, sein Deutsch zu verstehen. Er selbst merkte, wie sich auch sein eigenes verbesserte.

„Wozu? S..s...sind Ländergrenzen nicht etwas Fiktives? Etwas U..Unnatürliches, von M...Menschenhand Geschaffenes? W...warum sollte man dafür morden?"

Von Hohenstein setzte sich an seine Bettkante, klemmte sich eine Pfeife in den Mundwinkel und zog ein Streichholz hervor, das mit einem leisen Zischen entbrannte. Er führte es an den Tabak, der sich unter der kleinen Flamme aufbäumte, sodass er ihn noch einmal nachstopfen musste, bevor er erneut Feuer geben konnte. Er zog ein paar Mal kräftig daran, bis der Rauch ihn in dichten Schwaden einhüllte. Das Zündholz warf er auf den Boden. Nikolai zögerte einen Lidschlag lang, bevor er es aufhob und stattdessen im Eimer verschwinden ließ. Er konnte das nicht sehen.

„Sie verstehen das in der Tat nicht, oder?", hakte der Major endlich nach.

„N... nein."

„Ein Land ist nicht schlichtweg ein begrenztes Territorium, das irgendjemand einmal festgelegt hat. Es bedeutet Identität."

„Ich identifiziere mich n...n...nicht über mein Land", hielt Nikolai dagegen und wedelte mit der Hand, um den Tabakgeruch zu vertreiben.

„Worüber dann?"

„Über m... meine Be... Berufung."

„Das Tanzen?"

Nikolai nickte, erstaunt darüber, wie sich das Gespräch entwickelte. Er betrachtete seinen Peiniger genauer. Glänzten Schweißperlen auf seiner Stirn? Er hatte sich schon einmal gefragt, ob er möglicherweise krank war, seine Blässe war keineswegs normal. Selbst seine schmalen Lippen wirkten blutleer, schimmerten im Zwielicht beinahe bläulich.

„Waren Sie Premier danseur?"

„N...nein, aber ich werde es schaffen. K...koste es, was es wolle."

Nikolai hatte das Gefühl, als sehe ihn der Major zum ersten Mal auf eine andere Art und Weise an als sonst. Lag da etwa ein Hauch von Bewunderung in seinem Blick? Nein, unmöglich, nachdem er ihm erst vor wenigen Tagen noch so klar zu verstehen gegeben hatte, für wie abscheulich er ihn hielt.

„Warum?"

„W...weil es d...das einzige ist, w...was ich kann."

Von Hohenstein nahm die Pfeife aus seinem Mundwinkel und hielt sie elegant mit Daumen und Zeigefinger fest. In seinen Augen blitzte so etwas wie Interesse auf.

„Sie sind also ein Monomanist?"

„D...das kann man so sagen, ja."

In einer Geste, die wohl beiläufig wirken sollte, zückte der Major ein schlichtes, weißes Taschentuch, auf welchem das Eiserne Kreuz eingestickt war, und tupfte sich den Schweiß rasch von der Stirn, ehe er es wieder in seiner Brusttasche verschwinden ließ und die Pfeife erneut zum Mund führte.

Sie sprachen nicht mehr miteinander, trotzdem blieb von Hohenstein. Seine Art zu rauchen wirkte nicht genüsslich, eher angespannt und verkniffen. Nikolai wurde aus ihm nicht schlau. Obwohl vieles an ihm auf eine mögliche Krankheit hindeutete, wirkte nichts an ihm gebrechlich, im Gegenteil, er schien die Vitalität in Person zu sein, ein Widerspruch, den sich Nikolai nicht erklären konnte. Selbst sein Alter war schwierig abzuschätzen. Seine Augen wirkten uralt, als hätten sie schon alles gesehen und alles erlebt, aber der Rest ließ auf einen Mann Anfang dreißig schließen.

Ebenso war er von dem Gespräch überrascht. Keine Drohungen, keine Fragen zur Offensive. War genau das seine Taktik? Versuchte er nun, da Nikolai dem Druck immer noch nicht nachgeben hatte, Vertrauen zu ihm aufzubauen und ihn auf diese Weise zum Reden zu bewegen? Im Prinzip wusste er nur eines: Er musste vorsichtig sein. Er spielte mit einem Feuer, an dessen Flammen er sich jeden Moment verbrennen konnte, mehr noch, die ihn verzehren würden, sollte er unvorsichtig sein.

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt