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„Hier, Bübchen."

Iwan steckte etwas durch die Lücke in der Wand. Nikolai griff danach und zog es heraus. Er schnappte nach Luft. Mit großen Augen sah er den Kosaken an.

„Ist das etwa...?"

„Das Protokoll, ganz recht. Oder soll ich sagen, eines der beiden?"

„Wie meinst du das?"

„Otto hatte sich Zutritt zu Reisers Büro verschaffen können, nachdem er ihn abgefüllt hatte. Er hatte den ganzen Raum durchsuchen müssen, es war erstaunlich gut versteckt gewesen."

Nikolai verstand gar nichts mehr. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er es dem Major übergeben hat und ..."

Er hielt inne, als ihm aufging, was das zu bedeuten hatte. „Oh ...", entfuhr es ihm.

„Genau. Offenbar gibt es zwei. Eines hatte er von Hohenstein gegeben, das andere behalten. Tu dich mit dem Lesen beeilen, Otto muss es so schnell wie möglich zurückbringen."

Verwirrt setzte sich Nikolai mit dem Rücken an die Wand, streckte die Beine aus und lauschte, ob sich Schritte näherten. Erst dann schlug er den Ordner auf, wo ihm sogleich Reisers unordentliche Schrift ins Auge sprang. Ein schwaches Zittern hatte von seinen Händen Besitz ergriffen. Teilweise war er neugierig, was er dort lesen würde, gleichzeitig fürchtete er sich davor. Zu wissen, was hier über ihn festgehalten worden war, würde ihm in den Verhören einen großen Vorteil verschaffen, doch wenn er es sich in irgendeiner Weise anmerken ließ, dass über den Inhalt dieses Ordners Bescheid wusste, wäre er vermutlich tot, zusammen mit Iwan und Otto. Es war dieser Gedanke, der ihn zögern ließ. Ein falsches Wort würde genügen, um von Hohenstein noch stutziger zu machen. Das war er bereits und wenn er einmal nicht das richtige Maß fand, nur ein falsches Wort sprach, wäre es vorbei mit ihm. 

Er atmete tief durch. Nein, er musste es lesen. Er blätterte, bis die Aufzeichnungen begannen, wobei das Papier verräterisch raschelte. Natürlich war es für die Wachposten unmöglich, das durch die Tür zu hören, dennoch war ihm unwohl. Noch einmal horchte er, ob sich Schritte näherten. Alles ruhig. Also begann er.

Kriegsgefangenenlager Quedlinburg

Vernehmung des Beschuldigten Nikolai Fjodorowitsch Orlow, Leutnant der zaristischen Armee durch Major von Hohenstein

Schriftführer: Kompaniefeldwebel Reiser

Weitere Anwesende: Obergefreiter Schwarzer, Übersetzer

Quedlinburg, den 7. April 1916

Frage: Wir haben Grund zu dem Verdacht, dass die russischen Gefangenen im Lager einen Aufstand gegen das deutsche Wachpersonal, deren Offiziere und den Kommandanten planen. Sie werden beschuldigt, maßgeblich daran beteiligt zu sein. Was haben Sie vor?

Antwort: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Weder ist mir etwas über einen Aufstand bekannt, noch bin ich darin involviert.

Frage: Einer unserer Wachmänner hat gehört, wie Sie andere Gefangene aufhetzten und Sie zum Aufstand bewegen wollten. Was sagen Sie dazu?

Antwort: Ich wiederhole: Mir ist nichts darüber bekannt. Außerdem würde wohl kaum ein Gefangener etwas auf mein Wort geben. Wie Sie wissen, bin ich erst seit kurzer Zeit hier.

Frage: Wenn Sie nicht der Rädelsführer sind, wer ist es dann?

Antwort: Ich weiß es nicht. Ich verstehe nicht einmal, warum ich hier bin. Ich habe nichts getan.

Frage: Wir wissen, dass Sie an diesem Aufstand beteiligt sind, es bringt nichts, das zu leugnen. Wenn Sie sich ein langes Leiden ersparen wollen, sollten Sie lieber antworten. Woher haben Sie Ihre Waffen und wo sind sie versteckt?

Minutenlang starrte Nikolai auf diese Zeilen, während in seinem Kopf tausend Fragezeichen wie lästige Mücken umherschwirrten. Angestrengt versuchte er, sie zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen. Er scheiterte kläglich und blätterte weiter zu den anderen Einträgen. Das konnte nicht sein.

„Was ist, Bübchen? Irgendetwas Belastendes gefunden? So tust du nämlich aussehen."

Langsam schüttelte Nikolai den Kopf. Er blickte Iwan nicht an.

„Nein, im Gegenteil. Du wirst es nicht glauben, aber hier wird mit keinem Wort die Brussilow-Offensive erwähnt."

„Das verstehe ich nicht."

„Ich auch nicht."

„Im Ernst, was soll das heißen?"

„Dass hier die Rede von einem angeblichen Gefangenenaufstand ist, an dem ich beteiligt sein soll."

Nikolai blätterte hin und her, als könnte ihm das Aufschluss bieten.

„Was hatte Reiser von Hohenstein dann gegeben?"

„Das richtige Protokoll schätze ich."

„Ich blicke langsam nicht mehr durch. Warum gibt es ein Falsches und ein Richtiges?"

Das wüsste Nikolai selbst gerne. Ihm fiel nur ein Grund ein, warum man ein Protokoll fälschen sollte: Offiziell durfte niemand von den wahren Hintergründen des Verhörs erfahren. Er fragte sich nur, weshalb, schließlich ging es um Informationen, die für das gesamte Reich von Bedeutung waren. Warum sollte von Hohenstein verhindern wollen, dass der Lagerkommandant und höhere Kreise davon erfuhren, gerade, wenn man bedachte, wie wichtig ihm das Wohlergehen seines Vaterlandes war? Nikolai teilte diese Gedanken mit Iwan, woraufhin dieser eine nachdenkliche Miene aufsetzte.

„Wer sagt, dass von Hohenstein es vor dem Kommandanten verbergen will? Vielleicht hat der das angeordnet?"

„Warum sollte er?"

„Warum sollte von Hohenstein seinen Vorgesetzten in einer solchen Angelegenheit belügen tun?", hielt Iwan dagegen. „Warum sollte er dich überhaupt verhören tun, wenn er nicht vorhat, die Informationen zu veröffentlichen? Was sollten sie ihm und Deutschland dann bringen?"

Nikolai krallte die Finger in seine Haare und dachte nach. Normalerweise waren bei den Verhören Reiser und Schwarzer anwesend gewesen, jedenfalls so lange, bis Nikolai begonnen hatte, sich zu wehren. Von da an hatte von Hohenstein ihn allein vernommen. Dennoch gingen die Einträge weiter. Warum? So sehr er sich anstrengte, diverse Möglichkeiten in seinem Kopf durchspielte, er kam auf keine plausible Erklärung. Nichts davon war logisch.

„Das Ganze ist mir nicht mehr geheuer", bemerkte Iwan, als eine Reaktion seitens Nikolai ausblieb.

Nikolai rollte mit den Augen. „Sag nicht, du willst wieder einen Rückzieher machen."

„Nein, im Gegensatz zu dir bin ich kein Feigling. Falls du noch etwas lesen musst, dann tu es jetzt. Wenn nicht, tu mir den Ordner zurückgeben, Otto hat nicht viel Zeit."

Einen Augenblick lang zögerte Nikolai, bevor er dem Kosaken das Protokoll zurückgab.

Einen Tag später erfuhr er, dass Otto die falschen Aufzeichnungen an ihrem Platz in der Schreibstube gesehen hatte, was ihm noch mehr Rätsel aufgab.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now