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In den folgenden Tagen stellte sich heraus, dass von den anderen Gefangenen nicht die einzige Gefahr ausging. Der Hunger stellte eine noch größere Bedrohung dar. Im Gegensatz zu ihren Verbündeten schickte die russische Regierung keine Lebensmittel an ihre Kriegsgefangenen, weshalb sie auf die mageren Rationen angewiesen waren, welche die Deutschen entbehren konnten. Hauptnahrungsmittel waren Brot und Kartoffeln. Erst kürzlich waren die täglichen Rationen von fünfhundert Gramm Brot auf dreihundert reduziert worden. Grund dafür war die Notlage der deutschen Bevölkerung aufgrund der alliierten Seeblockade. Nikolai hielt das für den Grund, warum die meisten Gefangenen in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, genau wie er.

Zum ersten Mal in seinem Leben stand er in der prallen Sonne auf einem Acker und grub ihn mit Werkzeugen um, die er noch nie zuvor in der Hand gehalten hatte. Schweiß lief ihm über das Gesicht und nicht einmal seine hochgekrempelten Ärmel verschafftem ihm Linderung. Es war eigentlich noch nicht heiß, aber körperliche Arbeit war anstrengender als gedacht, wie er überrascht feststellte. Seine Uniformjacke hatte er längst ausgezogen und über einen nahegelegenen Holzpfosten geworfen. Er ließ sie nicht aus den Augen, weil er befürchtete, ein anderer Gefangener könnte sie ihm stehlen.

Gerade mühte er sich mit einem Rechen ab, der immer wieder in der Erde stecken blieb, statt sie aufzulockern. Nikolai fluchte und hackte immer wütender auf den Boden ein. Was konnte daran so schwer sein? Er schaffte es, die unmöglichsten Verbiegungen und Verrenkungen zu vollführen, aber nicht, einen dämlichen Acker zu bearbeiten?

Irgendwann merkte er, wie sich etwas veränderte. Es war, als hätte man einen Schalter in seinem Inneren umgelegt. Sein Ehrgeiz, seine Aufgabe gut machen zu wollen, verwandelte sich in Fanatismus, ja in das Gefühl, sein Leben hinge davon ab. Sein Vorstellungsvermögen beschwor das Bild eines Bunkers in ihm herauf und gaukelte ihm vor, dass er ihm nur entkommen konnte, wenn er es schaffte, den Acker zu bestellen.

 Einer Verzweiflung nahe, schlug er immer heftiger auf den Boden ein, während er glaubte, das Pfeifen von Granaten zu hören. Sie würden ihn töten, wenn er nicht besser wurde! Auf einmal fingen seine Gliedmaßen an, kaum merklich zu zucken, für Nikolai aber fühlte es sich an, als würde es seinen ganzen Körper schütteln.

„Lass mich mal, deine Unfähigkeit kann man sich ja nicht ansehen."

Jemand riss ihm das Werkzeug aus der Hand, stieß ihn beiseite und beförderte ihn ruckartig zurück in die Realität. Kein Bunker, keine Granaten. Nikolai atmete tief durch. Er musste sich beruhigen, es war alles in Ordnung. Der Mann, der ihm den Rechen entwendet hatte, war Iwan. Natürlich, wer sonst?

„Nicht nötig", gab Nikolai zurück und schaffte es nicht, die Verärgerung aus seiner Stimme herauszuhalten. Er würde das schaffen, auch ohne die Hilfe anderer und es empörte ihn, dass man ihm das nicht zutraute.

„Oh doch. Sieh her, verwöhntes Bübchen, so musst du das machen."

Nikolai beobachtete den deutlich älteren und kräftigeren Mann, bei dem die Arbeit leicht und mühelos wirkte. Er sah das Spiel der Muskeln unter seinem verschwitzten Hemd und kam nicht umhin, die rohe, archaische Kraft des anderen zu bewundern. Er hatte die einprägsamen Gesichtszüge eines Kosaken, kantig und mehr asiatisch als europäisch, vermutlich aus Sibirien stammend. 

Wie unterschiedlich wir sind, dachte Nikolai fasziniert. Er, der Arbeiter, lebenslang den Witterungen und Launen der Natur ausgesetzt und er, Nikolai, der Tänzer, der fast sein gesamtes Leben in der abgeschotteten Welt des Balletts verbracht hatte. Sie waren wie Tag und Nacht, aber war das ein Grund, sich gegenseitig zu hassen? Nikolai wusste, dass Menschen zu Vorurteilen neigten, das war ganz normal und in gewisser Weise versuchten sie damit, sich vor dem Unbekannten zu schützen, solange sie nicht wussten, dass keine Gefahr von dem jeweils anderen ausging. Er selbst war nicht fehlerfrei in dieser Hinsicht, dennoch verstand er nicht, was diesen Mann dazu bewegte, seine Abneigung gegen ihn derart offen auszuleben.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now