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Von Hohenstein öffnete die Tür der Zelle, hielt sie ihm auf und bedeutete ihm mit einer eleganten Handbewegung, einzutreten, als lade er ihn zum Essen in sein Haus ein.

„Bitte sehr."

Widerwillig folgte Nikolai der Anweisung. Zu seiner Verwunderung wurde die Tür nicht geschlossen. Stattdessen machte der Major Anstalten, sich zu ihm zu gesellen. Innerlich seufzte Nikolai. Was wollte er nun schon wieder von ihm? Bevor er jedoch einen Fuß über die Schwelle setzen konnte, hielt ihn Kompaniefeldwebel Reiser auf.

„Verzeihung, Herr Major. Wenn Sie zu dem Gefangenen in die Zelle wollen, müssen Sie Ihre Waffen ablegen."

Von Hohenstein hob eine Augenbraue. „Wie bitte?"

„Anweisung von Generalmajor von Siegsfeld."

„Wozu?"

„Damit sichergestellt ist, dass Sie diesen wichtigen Gefangenen nich' töten."

Dem Major war seine Irritation regelrecht anzusehen. „Was soll der Unfug, Kompaniefeldwebel? Seit wann befolgen Sie die Anweisungen des Lagerkommandanten? Sie haben mir zu gehorchen, nicht ihm."

„Ich muss Ihnen beiden folgen, aber mein oberster Vorgesetzter ist der General, nich' Sie."

Die Situation gefror zu Eis. Weder der Major noch der Kompaniefeldwebel regten sich, sie starrten einander lediglich an, bis Reiser die Augen niederschlug.

„Ihnen ist klar, was ich Ihnen antun kann, wenn Sie sich mir widersetzen, Kompaniefeldwebel?"

Reiser wurde kalkweiß im Gesicht. „Herr Major, ich bitte Sie. Es geht nich' darum, mich Ihnen zu widersetzen. Wenn wir die Anweisungen des Kommandanten nich' befolgen, macht uns das auffällig."

„Ja, sofern es jemand kontrolliert. Ich sehe hier allerdings niemanden."

„Er hat seine Häscher doch überall, wir müssen vorsichtig bleiben."

Erneut setzte Schweigen ein. Nichts außer dem angespannten Atem der beiden Männer war zu vernehmen. Immer wieder sah von Hohenstein auf seine Pistole und auf seinen Offizierssäbel. Er haderte deutlich mit sich. Nikolai verfolgte das Schauspiel staunend.

Schließlich gab sich der Major einen Ruck, schnallte den Säbel ab und reichte Reiser seine Pistole. Als der Kompaniefeldwebel die Waffen entgegennehmen wollte, ließ von Hohenstein sie nicht los und durchbohrte seinen Untergebenen mit dem stechenden Blick seiner ungewöhnlich hellen Augen, als wolle er ihn damit in Brand setzen.

„Ich schwöre Ihnen, Kompaniefeldwebel, wenn Sie nicht die Wahrheit sprechen, dann werde ich Sie dafür büßen lassen."

Der Adamsapfel des untersetzten Mannes hüpfte sichtbar auf und ab. „Ich würde es nie wagen, Sie zu belügen, Herr Major."

„Das will ich hoffen – für Sie."

Mit diesen Worten ließ von Hohenstein Säbel und Pistole los und überließ die beiden Gegenstände dem Kompaniefeldwebel. Anschließend trat er zu Nikolai in die Zelle. Reiser zog die Tür zu und ließ sie mit unnötigem Krach ins Schloss fallen. Abrupt wurde das Licht vom Flur ausgesperrt, abgesehen von dem Streifen, der durch die Gitterstäbe fiel, und hüllte ihn zusammen mit seinem Widersacher in den Schleier der Finsternis. Alsbald strömte sie in Nikolais Innerstes und fraß sich ätzend wie Säure durch seine Adern, bis sein gesamter Körper zu brennen schien.

Eingesperrt in der Dunkelheit. Schon wieder. Würde das denn nie enden?

In dem Moment, in dem von Hohenstein sich ihm nähern wollte, ertönte das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss herumgedreht wurde.

Der Major zuckte zusammen und verharrte in seiner Bewegung. Ihre Blicke trafen sich und da entdeckte Nikolai in seinen Augen zum ersten Mal etwas, das er nie von ihm erwartet hätte: Angst.

Sonderbar schleppend wandte sich von Hohenstein um und drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich nicht. Tatsächlich, sie war verschlossen. Was ging hier vor sich?

„Reiser?"

In der Stimme des Majors erklang eine Mischung aus Verwirrung, Furcht und Verunsicherung.

„Reiser? Was soll das? Öffnen Sie die Tür."

Eine breite Stirn und ein Paar dunkler Augen erschienen hinter den Gitterstäben.

„Tut mir leid, Herr Major, auch das ist 'ne Anweisung des Generals."

Nikolai konnte sehen, wie von Hohenstein die Zähne aufeinanderbiss, derart angespannt war sein Kiefer.

„Sie haben mich verraten", flüsterte er ungläubig. Hätte Nikolai es nicht besser gewusst, hätte er gar behauptet, er klinge verletzt.

„Ich musste es tun, Herr Major."

„Wofür? Was hat er Ihnen versprochen, was nicht auch ich Ihnen hätte geben können?"

„Nichts. Das war nicht nötig. Er hat mir lediglich verraten, was Sie an der Front getan haben. Mein Bruder war einer von ihnen. Sie tragen die Schuld an seinem Tod."

Von Hohensteins Hände schlossen sich um die Metallstäbe und augenblicklich verschwand der Ausdruck von Verunsicherung in seinem Gesicht, als hätte er einen Schalter umgelegt.

„Öffnen Sie die Tür, Reiser. Sofort. Andernfalls werde ich meine Drohung wahrmachen."

„Ich weiß, dass leere Drohungen nich' ihr Ding sind, Herr Major. Jetzt allerdings sind Sie hier in dieser Zelle und ich glaub' nich', dass Sie jemals wieder rauskommen."

Das Augenpaar verschwand, Schritte entfernten sich und hallten draußen, auf dem langen, trostlosen Flur gespenstisch nach.

Noch lange stand der Major vollkommen regungslos vor der Tür, beide Hände um die Gitterstäbe gekrampft. Seine Augen waren starr geradeaus gerichtet und er bewegte sich nicht, schien nicht einmal zu atmen.

„Major?", durchbrach Nikolai irgendwann die Stille.

Von Hohenstein reagierte nicht.

„Major?"

Langsam lösten sich seine Hände von den Stäben, er drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, ein Bein elegant angewinkelt. Seine linke Hand wanderte an seine Seite, jene Stelle, an der sich normalerweise sein Säbel befand, doch sie griff ins Leere. Er schien nicht zu wissen, wohin damit, bis er sich entschied, sie in die Hosentasche zu stecken, während er die andere, die für gewöhnlich auf dem Spazierstock ruhte, baumeln ließ. Es war die erste Geste der Unsicherheit, die Nikolai je an ihm beobachtet hatte.

Davon abgesehen wirkte er vollkommen ruhig, als wäre er, ein hochdekorierter deutscher Offizier, nicht gerade von einem Unteroffizier zu einem Kriegsgefangenen in eine Zelle gesperrt worden.

„Was war das gerade eben? Wovon hat Reiser gesprochen? Warum hat man Sie zu mir gesperrt?"

„Stellen Sie keine Fragen, Leutnant. Je weniger Sie wissen, desto besser."

„Für wen? Für Sie oder für mich?"

Nikolai gelang es nicht, die Angriffslust aus seiner Stimme herauszuhalten. Er hatte genug von den Spielchen, von der Geheimnistuerei, den Lügen. Er wollte endlich Antworten.

Von Hohenstein erwiderte seinen Blick so eindringlich, dass Nikolai unbehaglich wurde.

„Für Sie."

Seufzend ließ sich Nikolai auf seine Pritsche sinken.

„Ich bin der Meinung, dass ich durchaus ein Recht darauf habe, zu erfahren, warum ich Ihre Gegenwart in meiner Zelle ertragen muss."

„Ich hätte es ahnen müssen", antwortete der Major wie aus dem Kontext gerissen. „Ich hätte Reiser auf keinen Fall meine Waffen geben dürfen."

„Sie hätten noch viel mehr ahnen müssen", gab Nikolai zurück.

Der schwarze SchwanWhere stories live. Discover now