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„Los, beweg dich, scheiß Kosake."

Der deutsche Wachmann stieß ihm so heftig in den Rücken, dass Nikolai strauchelte. Ich bin kein Kosake, hätte er am liebsten klargestellt, doch er hielt den Mund. Er hatte schon zu viel gesagt, das ihn in Schwierigkeiten gebracht hatte. Er wusste nicht, was das für ein Beruhigungsmittel gewesen war, das der Arzt ihm gespritzt hatte, aber es hatte seine Sinne derart vernebelt, dass er zu dem deutschen Offizier, der bei seiner Abholung dabei war, gesagt hatte, er solle zur Hölle fahren. Als Strafe hatte dieser ihn in ein Mannschaftslager geschickt. 

Verstohlen sah Nikolai sich um, während ihn die beiden Wachen über die riesige Anlage des Kriegsgefangenenlagers Quedlinburg zerrten. Hinter den dutzenden, länglichen Holzbaracken, die lieblos und ohne jeden Sinn für Schönheit in die Landschaft gesetzt worden waren, ging die Sonne unter und tauchte die Dächer in ein unwirkliches, orange-goldenes Licht. 

Der doppelreihige Stacheldrahtzaun, der das Areal umgab, wirkte, als würde er glühen und damit angeben wollen, welch höllische Waffen er für den Fall eines Ausbruchversuches zur Verfügung hatte. In Anbetracht der Wachtürme mit Maschinengewehren, die in der Mitte jeder Längsseite bedrohlich in den Himmel ragten, fragte sich Nikolai, wer auf einen solchen Einfall kommen sollte.

Die beiden Wachmänner hielten auf eine Baracke zu, die sich ein Stück abseits der anderen befand und öffneten die Tür. Nikolai zögerte. Seine Beine schienen mit dem Boden verschmolzen zu sein, sodass er sie nicht mehr bewegen konnte.

„Rein da, na los!"

Hilflos sah er über die Schulter, um einen letzten Blick auf den Sonnenuntergang zu erhaschen. Immerhin konnte er nicht wissen, ob es das letzte Mal war, dass er einen zu Gesicht bekam. Sanft streiften die letzten Strahlen des Tages seine Wange. Es war, als würden sie ihm Mut zusprechen wollen. Er atmete tief durch, bevor er seine Beine zum Weitergehen zwang und in das Barackeninnere trat. Ohne anzuklopfen, rumpelten die beiden mit ihm in eines der Zimmer.

Wässrige, stahlgraue Augen, die unter dicken, beinahe geschwollen wirkenden Lidern schwammen, lugten ihm von einem massiven Schreibtisch entgegen. Mit einem flauen Gefühl im Magen erwiderte Nikolai den Blick des schmächtigen Sekretärs, der verdutzt eine seiner buschigen Augenbrauen hob. Er musterte Nikolai wie ein seltenes Fundstück oder wie einen Exoten, bis sein Blick an den Schulterklappen von Nikolais Uniform hängenblieb.

„Nanu? Was ist denn das? Ein Leutnant?"

„Ja, im Lazarett aufgegabelt", antwortete einer der Soldaten, die ihn hergebracht hatten.

Der Gefreite hinter dem Schreibtisch beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, was er da sah. Nikolai krallte die Finger in den Stoff seiner Hose.

„Was macht der denn hier? Das ist ein Mannschaftslager."

„Er hat Hauptmann von Braun beleidigt."

Der Sekretär verzog den Mund. „Oh, ganz dünnes Eis. Das erklärt alles. Russe, wie?"

Nikolai war nicht sicher, ob die Frage an ihn gerichtet war, deshalb antwortete er vorsichtshalb nicht.

„Ja, was sonst?", erwiderte der Soldat.

Der Gefreite setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und zwirbelte unschlüssig an seiner Augenbraue, bis er eine Entscheidung traf. „Holt Kompaniefeldwebel Reiser, er sollte erfahren, dass wir einen russischen Offizier hier haben."

Sofort huschte einer der Soldaten los und kehrte nur wenig später mit einem stämmigen, dunkelhaarigen Mann Mitte oder Ende Vierzig zurück. Ein buschiger Schnauzbart zeichnete einen Halbkreis über seinen schmalen, verkniffenen Lippen. In einer Mischung aus Belustigung und Abscheu ließ er seine Augen über Nikolai wandern und stemmte die Hände in die Hüften. „Ein Leutnant, tatsächlich. Wirkt ein wenig zu filigran für harte Feldarbeit, was?"

Der schwarze SchwanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt