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Ein leises Stöhnen riss ihn aus dem Schlaf. Blinzelnd öffnete er die Augen. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber Major von Hohenstein saß noch immer genauso da wie zuvor. Er hatte sich nicht hingelegt und sein Zustand schien sich verschlechtert zu haben. Er zitterte, als leide er unter Schüttelfrost, seine Hände waren in seine Hose gekrampft und sein Gesicht war seltsam verzerrt, als quälten ihn Schmerzen.

Nikolai setzte sich auf.

Sollte er ihm nicht doch die Pritsche überlassen? Auch wenn er es wieder leugnen würde, so war er offensichtlich krank, während Nikolai sich zumindest einer guten körperlichen Gesundheit erfreute. Andererseits hatte sein Stolz noch ein Wörtchen mitzureden und außerdem wollte er selbst gerne einigermaßen bequem liegen.

Abwechselnd glitt sein Blick zwischen dem Major und der Pritsche hin und her. Was sollte er tun?

Er ließ sich zurück auf den Strohsack sinken und versuchte, wieder einzuschlafen. Zwar dämmerte er rasch weg, doch nur wenig später erwachte er erneut.

Inzwischen lag von Hohenstein auf dem nackten Boden. Er hatte sich auf die Seite gedreht und benutzte seinen Arm als Kissen. Seine Augen waren geschlossen, aber Nikolai bezweifelte, dass er schlief, es sah eher so aus, als hätte er sie vor Schmerz fest zusammengekniffen. Da gab er sich endlich einen Ruck, stand auf und sprach von Hohenstein an.

„Major? Sie können die Nacht auf der Pritsche verbringen, wenn Ihnen das angenehmer ist."

Von Hohensteins Lider öffneten sich langsam. Er sah zu Nikolai auf und für einen Moment lag etwas Entrücktes in seinen Augen, als erkenne er ihn nicht wieder. Schließlich wurde sein Blick klar, was Nikolai erleichtert aufatmen ließ.

„Nicht nötig", krächzte er.

„Sind Sie sicher?"

Der Major brachte lediglich ein schwaches Nicken zustande. Unschlüssig stand Nikolai über ihm, unsicher, wie er sich verhalten sollte und verstört aufgrund des Anblickes. Vor wenigen Stunden noch hatte er diesen Mann für eine schreckliche, gewissenlose und übermächtige Kreatur gehalten und nun lag er bleich und zitternd auf dem Boden.

Ein Schwall unterschiedlichster Gefühle, die er nicht zuordnen oder gar benennen konnte, spülte über ihn hinweg. War es Schadenfreude? Genugtuung? Mitleid? Eine Mischung aus allem? Er wusste es selbst nicht.

Jedenfalls verspürte er etwas, das einem schlechten Gewissen erstaunlich nahe kam, als er sich zurück auf die Pritsche legte und dieses Mal bis zum Morgen durchschlief. Von Hohenstein hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Zum ersten Mal sah er ihn mit zerzaustem Haar und zerknitterter, verrutschter Uniform. Nikolai konnte es nicht fassen. Er war ein normaler Mensch. Er wusste nicht, warum ihn diese Erkenntnis so überraschend traf. Natürlich war er das, was sonst?

Unter einem leisen Ächzen versuchte der Major, sich aufzurichten, was erst beim dritten Versuch gelang. Er hievte sich in die gleiche sitzende Position wie am Abend zuvor, mit dem Unterschied, dass er dieses Mal die Knie an den Leib zog. Wirre, verschwitzte Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Er atmete schwer, schloss die Augen und warf den Kopf hin und her, als finde er keine angenehme Position für ihn.

„Was ist los mit Ihnen?", fragte Nikolai unverwandt, doch wie erwartet, erhielt er keine Antwort.

Mit wachsender Unruhe beobachtete er seinen Zellengenossen.

„Hören Sie auf, mich in diesem Zustand anzusehen", fuhr der Major ihn nach einer Weile an. Beschämt senkte Nikolai den Blick.

„Mir ist klar, dass Ihnen mein Anblick die größte Befriedigung bereiten muss."

Zuerst wusste Nikolai nicht, was er antworten sollte. Er räusperte sich und entschied sich in seiner Unsicherheit für Hohn. „Nicht doch, Sie sind der liebenswürdigste Mensch auf dieser Welt, wie könnte ich Schadenfreude Ihnen gegenüber verspüren?"

Der schwarze SchwanМесто, где живут истории. Откройте их для себя